Seit 1959 der Dalai Lama vor den chinesischen Besatzern ins indische Exil geflohen ist und eine Welle von Terror und Zerstörung über Tibet hereinbrach, mussten zahlreiche Menschen vom Dach der Welt fliehen. Mehr als 140000 TibeterInnen verliessen seither ihre Heimat. Auch heute noch flüchten jedes Jahr rund 3000 Menschen – überwiegend Nonnen, Mönche und Kinder – unter hohem Risiko über den Himalaya. Die einen, weil sie die Unterdrückung der Religionsfreiheit und die Repressalien gegen die Klöster nicht mehr ertragen, die anderen, weil sie in der von China dominierten Heimat keine Zukunft mehr sehen oder vom Wohlstand der USA und Europas angelockt werden.
Zwar erlaubt das chinesische Gesetz mittlerweile eingeschränkten Grenzverkehr, doch die dafür nötigen Papiere sind für die meisten Tibeter kaum zu erlangen. Die «heimliche Überquerung der nationalen Grenze» aber wird mit langjährigen Gefängnisstrafen geahndet und bedeutet für viele Flüchtlinge eine Reise in den Tod. Viele überleben den gefahrvollen Weg unter schwierigsten Bedingungen über die verschneiten Himalayapässe nicht oder erreichen Nepal oder Indien mit schweren gesundheitlichen Schäden und abgefrorenen Gliedmassen.
Exemplarische Flucht
Eine Hauptroute der tibetischen Flüchtlinge führt über den fast 5800 Meter hohen Pass Nangpa-La an der Grenze zwischen Tibet und Nepal. Der Fotograf und Filmemacher Dieter Glogowski hat zwei tibetische Kinder auf ihrer Flucht über den Nangpa-La begleitet. Zwei Jahre Recherchen, unzählige Reisen und Kontaktgespräche in Tibet, Nepal und Darhamsala gingen der Reportage voraus, deren Auslöser die Vergabe der Olympischen Spiele an China war. Dabei ging es Glogowski darum, anhand der Geschichten des 14-jährigen Lhakpa, des 17-jährigen Norbu und ihres Begleiters Nymia (Namen und Orte wurden zum Schutz der beschriebenen Personen bewusst geändert) exemplarisch die Geschichte Tausender Flüchtlinge aufzuzeigen.
Entsprechend fand die Flucht auch im Winter statt, da die chinesischen Grenzwachen in der kalten Jahreszeit ihre Patrouillengänge angeblich weniger intensiv durchführen. Temperaturen von minus 40 Grad, tief verschneite oder von blankem Eis bedeckte Routen, beissender Wind und Schneestürme erwarten die Flüchtlinge, die – im Gegensatz zur gut ausgestatteten Gruppe Glogowskis – meist mit wenig Ausrüstung und Nahrungsmitteln unterwegs sind. Auch der Ausgang der eindrucksvollen und sehr persönlich gefärbten Reportage ist exemplarisch: Lhakpa geht nach seiner Ankunft in Nepal ins Kloster, Norbu in ein SOS-Kinderdorf – so wie es bei den allermeisten jugendlichen Flüchtlingen der Fall ist.
Komplexe Hintergründe
Doch das Flüchtlingsdrama auf dem Dach der Welt ist nur vor dem Hintergrund der historischen und aktuellen Beziehungen zwischen Tibet und China zu verstehen. Deshalb ist fast die Hälfte des Buches der Einführung in die komplexen Hintergründe des Flüchtlingsdramas gewidmet. Kenntnisreich schildert der Schriftsteller und Tibet-Kenner Franz Binder die wechselvolle Geschichte Tibets von den Anfängen bis zur Gegenwart. Differenziert und ohne zu beschönigen oder zu verklären, beschreibt er die Geschichte des Buddhismus in Tibet, die schwierigen Beziehungen zwischen China und dem Dach der Welt sowie die Umbrüche und die Einflüsse der Moderne, mit denen die TibeterInnen in ihrem Heimatland und im Exil konfrontiert sind.
Dabei zeigt Binder auch auf, dass weder das verklärte Bild des Westens auf Tibet noch der von der chinesischen Parteipropaganda verordnete Blick auf das Land als ein Teil Chinas die Tatsachen trifft: «Weder gehörte Tibet jemals zu China, noch war es ein idyllisches Shangri-La paranormal begabter Mönche.»
Die Verbindung von persönlicher Reportage, grosszügigen Bildsequenzen und fundierten Hintergrundinformationen machen dieses Buch zu einer umfassenden und eindrücklichen Dokumentation Tibets und seiner BewohnerInnen.
Franz Binder, Dieter Glogowski: Tibet - Flucht vom Dach der Welt. Bücher Verlag München 2007. 41.80 Sfr.
Erschienen in «amnesty - Magazin der Menschenrechte» vom Februar 2008. Verändert im April 2016.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion