Seit der Vergabe der Olympischen Spiele 2001 an Peking hat die Welt vor solch einem Szenario gezittert. Eine gewalttätige Protestbewegung in China – mit den Tibetern hatte man dabei nicht unbedingt gerechnet. Die kommunistische Führung schlägt diese blutig nieder. Zwischen Peking und dem Westen entbrennt ein medialer Kampf um die Deutungshoheit der Ereignisse. Beide Seiten vereinfachen und verfälschen die Tatsachen, die Boykott-Frage ist wieder auf dem Tisch. Die Opfer sind dabei schon fast in Vergessenheit geraten.
Drei Protestgruppen haben die Revolte beeinflusst: die primär religiös motivierten, friedlichen Demonstrationen der tibetischen Geistlichen; junge TibeterInnen, frustriert durch die sozioökonomische Diskriminierung, und die radikale tibetische Exilbewegung in Indien. Alle drei Gruppierungen sehen die gesteigerte internationale Aufmerksamkeit vor den Olympischen Spielen als einmalige Chance, sich für die tibetische Sache zu engagieren.
Wie schon bei früheren Unruhen hat der tibetische Klerus die Revolte initiiert. Als institutionalisierte Gemeinschaft können die Mönche Demonstrationen besser organisieren als die Zivilbevölkerung. Hierzu nutzen sie geschickt die von den Chinesen eingeführten modernen Kommunikationsmittel.
Protest der Mönche
Zum 49. Jahrestag der Niederschlagung des tibetischen Volksaufstands am 10. März marschierten rund 300 Mönche der Klöster Drepung und Sera unweit von Lhasa in Richtung Stadtzentrum. Die Drepung-Mönche forderten Religionsfreiheit. Die Militärpolizei stoppte sie mit Tränengas und verhaftete einige von ihnen. Die Geistlichen aus Sera riefen auf dem Vorplatz des Jokhang-Tempels, des wichtigsten buddhistischen Zentrums vor Ort in Lhasas Altstadt, nach Unabhängigkeit, verteilten Flugblätter und schwenkten die tibetische Nationalflagge.
Ähnliche Proteste fanden auch in und um Klöster in den Provinzen Qinghai und Gansu, später auch in Sichuan statt. Neben Religionsfreiheit und Unabhängigkeit forderten die Mönche auch die Rückkehr des Dalai Lama. Die grosse Mehrheit der Geistlichen unterstützt einen gewaltfreien Weg zur Lösung der Tibet-Frage. Allerdings geht die politische Forderung vieler Mönche nach Unabhängigkeit über die vom Dalai Lama anvisierte Autonomie unter chinesischer Herrschaft hinaus.
«2008 ist unsere letzte Chance. Die Tibeter müssen die chinesische Flagge einholen und die eigene hissen», formulierte ein Mönch des Labrang-Klosters die Forderungen des bedeutendsten buddhistischen Zentrums ausserhalb der Autonomen Region Tibet.
Auch unter der Zivilbevölkerung geniesst das Oberhaupt der TibeterInnen hohes Ansehen. Allerdings spielt für die Jugendlichen in Lhasa die von China transportierte Modernisierung eine ebenso grosse, wenn nicht grössere Rolle. Viele begrüssen die von China mitgebrachten Bildungschancen und Konsummöglichkeiten, beklagen aber zu hohe Schulgebühren und schlechte Qualität zu überhöhten Preisen. Die in ganz China galoppierende Inflation treibt die Preise weiter in die Höhe. Durch mangelnde Bildung fühlen sich tibetische Jugendliche schlecht vorbereitet auf die Herausforderungen einer globalen Marktwirtschaft.
Den chinesischen MigrantInnen fällt das leichter. Die Privatwirtschaft, in der es am meisten zu verdienen gibt, ist fest in chinesischer Hand. Gegenseitige Vorurteile erschweren die Zusammenarbeit. Jugendliche Tibeter in Lhasa berichteten, dass sie für gleiche Arbeit bis zu einem Drittel weniger Lohn erhalten. Nicht alle sind mehr bereit, dem Pazifismus des Dalai Lama zu folgen. Ihre Frustration über die Wirtschaftsmacht der Chinesen entlud sich im Vandalismus des 14. März 2008.
Gewaltausbruch
An jenem Morgen demonstrierten Mönche des Ramoche-Tempels in der Altstadt von Lhasa. Augenzeugenberichten zufolge ging die Militärpolizei mit Schlagstöcken auf sie los. Berichte von toten Geistlichen im Drepung-Kloster kursierten. Später gesellten sich über tausend Zivilisten zu den Mönchen. Die Militärpolizei versuchte, die Demonstrierenden mit Tränengas auseinanderzutreiben. Die Situation eskalierte. Randalierende Tibeter brannten mehrere hundert Läden von Chinesen bis auf die Grundmauern nieder, das Inventar landete auf der Strasse.
Vorbeifahrende Autos, Fahrräder und Lastwagen wurden in Brand gesetzt. Nach chinesischen Angaben kamen 19 Menschen ums Leben. Dharamsala, wo der Dalai Lama seit seiner Flucht aus Tibet residiert, spricht von über 100 Toten. Exiltibetische Organisationen schätzen die Zahl der Todesopfer auf über 70.
Der Dalai Lama hat die Gewalt beider Seiten verurteilt und bereits zwei Mal seinen Rücktritt angedroht. Die exiltibetische Regierung, insbesondere der als radikal geltende tibetische Jugendkongress (TYC), steht dem moderaten Ansatz des tibetischen Oberhaupts skeptisch gegenüber.
1970 mit Zustimmung des Dalai Lama gegründet, hat der TYC rund 300000 aktive Mitglieder weltweit. Er bekennt sich zwar zur Autorität des Dalai Lama, verfolgt aber das Ziel eines unabhängigen Staates – und dazu sind ihm auch provokante Massnahmen recht. «Bis dato sind unsere Mittel friedlich», sagte der Präsident des TYC, Tsewang Rigizin, Anfang April. Gewalt sei keine Option – zumindest nicht momentan.
Zeitgleich mit den friedlichen Protesten der Mönche hatten fünf exiltibetische Nichtregierungsorganisationen, darunter der TYC, zu einem sechsmonatigen Protestmarsch von Dharamsala nach Lhasa aufgerufen. Im Visier stand die Austragung der Olympischen Spiele. Die indische Polizei hat mehrmals Teilnehmer festgenommen, und der Dalai Lama rief die Bewegung zum Einhalten auf.
Verschwörungstheorie
Hinter der Parallelität der Mönchsdemonstrationen und des exiltibetischen Protestmarschs vermutet die chinesische Regierung eine geplante Verschwörung, die von Dharamsala ausgeht. Die «Dalai Lama-Clique» habe den Aufstand, einschliesslich der Randale in Lhasa, angezettelt, um die Olympischen Spiele «als Geisel zu nehmen».
Die Spiele sind Peking wichtig, aber in puncto Tibet geht es um mehr. Sei es die Maximalforderung Unabhängigkeit oder moderate Rufe nach mehr Autonomie – alle Lösungsvorschläge der Tibeter zielen auf eine Region ab, die neben der Autonomen Region Tibet auch Teile der Provinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan umfasst. Dieses «Grosstibet» umfasst mehr als ein Viertel des chinesischen Staatsgebiets. Ginge Peking Kompromisse ein, könnte das Verfechter der Unabhängigkeit in Xinjiang, Chinas nordwestlichster Provinz, und Taiwan auf den Plan rufen.
Wegen der internationalen Aufmerksamkeit war die Regierung bemüht, den Aufstand in Lhasa nicht wie 1989 auf dem Tiananmen-Platz in einem Massaker enden zu lassen. So versuchte die chinesische Regierung in Peking, die zunächst viel schärferen Attacken aus Lhasa zu dämpfen. Die Tibet-Frage möchte China bis zum Tod des Dalai Lama hinauszögern und setzt darauf, dass die tibetische Bewegung dann ihre Symbolfigur verliert.
Und für die Nachfolge des Dalai Lama hat China vorgesorgt. Per «Verwaltungsmassnahmen für die Reinkarnation lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus» vom Juli 2007 bedarf die Identifikation seiner Wiedergeburt der staatlichen Zustimmung, und sie muss auf chinesischem Staatsgebiet stattfinden. Durch die sehr viel radikalere Nachfolgegeneration des tibetischen Oberhaupts im Exil und die nun ebenfalls nicht mehr nur friedliche Protestbewegung innerhalb Chinas wird die Lösung der Tibet-Frage auch aus chinesischer Sicht immer schwieriger.
Erschienen in «amnesty - Magazin der Menschenrechte» vom Mai 2008
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion