MAGAZIN AMNESTY Biotreibstoffe Der Preis ist zu hoch

Hunderttausende von WanderarbeiterInnen arbeiten unter härtesten Bedingungen auf den Zuckerrohrplantagen des brasilianischen Bundesstaates São Paulo. Überanstrengung, Hitze und Feuer führen immer wieder zu Todesfällen und chronischen Erkrankungen.

Der Preis ist zu hoch Wanderareiter wissen sich kaum zu wehren © Gerhard Dilger

Sattgrüne Zuckerrohrfelder bestimmen die sanft hügelige Landschaft, so weit das Auge reicht. Dunkelrot leuchtet immer wieder die fruchtbare Erde hervor, bräunlich liegen die abgeernteten Felder da. 60 Prozent des brasilianischen Zuckerrohrs wird im tropisch warmen Landesinneren des Bundesstaates São Paulo angebaut. 50 Prozent der brasilianischen Ernte werden zu Bioethanol verarbeitet.

Auch die Ökonomie der Kleinstadt Guariba steht ganz im Zeichen von Zucker und dem Agrotreibstoff Ethanol, der in den umliegenden Fabriken aus dem süssen Rohstoff gewonnen wird. Hier, in der katholischen Pfarrei, ist auch die Zentrale der MigrantInnenseelsorge beheimatet, die Padre Antonio Garcia und Schwester Inês Facioli 1985 gegründet haben. Hier werden bis heute die WanderarbeiterInnen, die Jahr für Jahr aus dem armen Nordosten des Landes in die Zuckerhochburg Brasiliens ziehen, betreut und beraten.

Es sind Männer wie Francisco Cardoso, der nach einem langen Arbeitstag müde in der Wohnküche der 20-Quadratmeter-Wohnung sitzt, die er mit seiner Frau Maria Odenete, seiner dreijährigen Tochter Francisca und seinem Bruder Antonio teilt. Im Fernsehen läuft ein Fussballspiel. «Morgen geht es wieder aufs Feld», sagt der 31-Jährige. Auf fünf Tage Plackerei folgt ein Ruhetag.

Auch wenn die Mechanisierung der Zuckerrohrernte voranschreitet: Immer noch schuften allein auf den Feldern São Paulos Jahr für Jahr 300000 Männer und Frauen. Über zwei Drittel von ihnen sind WanderarbeiterInnen. «Das ist meine sechste Ernte», erzählt Francisco. Wie viele seine Nachbarn stammt er aus dem nordostbrasilianischen Bundesstaat Maranhão, wo die Armut auf dem Lande besonders gross ist.

Acht Monate lang schneidet er Zuckerrohr und verdient damit monatlich umgerechnet 400, manchmal auch 500 Franken – je nach geernteter Menge. Im Dezember fahren die Cardosos in ihre Heimatstadt Timbiras – 3000 Kilometer weit nach Norden. Arbeit gibt es dort nicht. Allein aus Timbiras ziehen seit ein paar Jahren Tausende von SaisonarbeiterInnen nach São Paulo. Viele von ihnen bauten früher Lebensmittel für die Selbstversorgung an oder verdingten sich als Tagelöhner, bis sie vom Sojaboom überrollt wurden.

Ausbeutung verschärft

Jetzt stehen die beiden Brüder zwischen drei und vier Uhr morgens auf. Um fünf Uhr, wenn es noch dunkel ist, steigen sie in den Bus, der sie nach einer langen Fahrt zu ihrem Einsatzort bringt. Bis drei Uhr dauert die Akkordarbeit, eine Stunde Mittagspause inklusive. «Die Zuckerrohrschneider müssen ausdauernd sein wie Langstreckenläufer», sagt der Ökonom Francisco Alves. «Heute ernten sie im Schnitt 12 Tonnen Zuckerrohr am Tag,  doppelt so viel wie vor 20 Jahren. Bei der Arbeit unter brennender Sonne, bei der sie um die 1 0000 Machetenhiebe ausführen, verlieren sie bis zu 8 Liter Wasser am Tag.»

«Die Leute aus Maranhão wissen sich kaum zu wehren», sagt Schwester Inês. Der Arbeitsrhythmus sei härter geworden, deshalb seien die Arbeiter heute jünger als in den Achtzigerjahren. Zusammen mit engagierten Beamten, Menschenrechtlern, Gewerkschaftern und Umweltgruppen wurden handfeste Erfolge erzielt. Die Kinderarbeit ist auf den Plantagen mittlerweile abgeschafft. Die Arbeiter werden nun mit Bussen statt mit Lastwagen auf die Felder gefahren. Es gibt weniger Verstösse gegen die Arbeitsgesetze. Dennoch habe sich die Ausbeutung verschärft, betont Padre Garcia. «Möglich ist das, weil es hier eine regelrechte Kultur der Unterwerfung gibt – die Wanderarbeiter glauben nicht, dass sie ihre Geschichte in die eigenen Hände nehmen können.»

Im gleichen Mass, wie das Arbeitspensum immer weiter erhöht worden sei, seien die Reallöhne gesunken. Immer wieder sterben Zuckerrohrschneider an Herzinfarkt. Doch kein Gericht stellt fest, was für Garcia und andere offensichtlich ist: dass diese Todesfälle mit der systematischen Überanstrengung der Wanderarbeiter zusammenhängen. Hinzu kommt ein namenloses Heer von ArbeiterInnen, die dauerhafte Gesundheitsschäden mit nach Hause nehmen.

«Wir sind nicht das brasilianische Kalifornien, wie es immer heisst», findet auch Staatsanwalt Marcelo Goulart aus dem Regionalzentrum Ribeirão Preto. Seit 13 Jahren prüft er, ob Umweltauflagen und Arbeitsgesetze eingehalten werden. Der Zuckerrohranbau trage zur Waldzerstörung und zur Verminderung der Artenvielfalt bei, sagt Goulart. Aber das gravierendste Problem sei der Einsatz von Feuer bei der Ernte: «Am späten Nachmittag gibt es im Bundesstaat Tausende von Feuerstellen, die giftige Gase in die Atmosphäre ausstossen.»

Deswegen hätten in der Region die Atemkrankheiten drastisch zugenommen, vor allem bei Kindern und älteren Menschen. Unmittelbar vor der manuellen Ernte werden die Felder angezündet, um die Stauden von dem lästigen Blattwerk zu befreien. Beim Einsatz von Erntemaschinen stellt sich das Problem nicht. Doch viele Unternehmer sperren sich gegen die Mechanisierung, weil die Zuckerrohrschneider billiger sind.

«Wir haben es mit einem Wirtschaftsmodell zu tun, das den Landbesitz, den Reichtum und die politische Macht konzentriert», sagt der Staatsanwalt. Kleinbauern und mittelständische Unternehmer könnten bei den Dimensionen und den erforderlichen Investitionen gar nicht mithalten, deswegen würden sie von den Grossen geschluckt oder verdrängt: «Entweder sie verkaufen ihr Land oder sie unterwerfen sich Pachtverträgen zu ungünstigen Konditionen.»

Bald Nahrungsmittelimporte?

«Unter sozialen und ökologischen Gesichtspunkten ist das Wirtschaftsmodell in unserer Region eine Katastrophe», lautet Goularts Fazit. «Langfristig ist die einzig vernünftige Perspektive eine Agrarreform.» Doch trotz der steigenden Lebensmittelpreise geht der Trend immer noch in die entgegengesetzte Richtung, weiss Padre Garcia: «Das Zuckerrohr ist in die Region des Gemüseanbaus eingefallen», sagt der Priester, «man findet hier nur noch wenig Orangen, Guaven, Zwiebeln, Knoblauch oder Kartoffeln.»

Seit 1990 wurde die Zuckeranbaufläche in ganz Brasilien um über 50 Prozent ausgeweitet, auf mittlerweile 70000 Quadratkilometer. Die Viehherden und die Sojafelder verlagern sich deswegen immer weiter gen Norden, wo sie den Amazonas-Regenwald dezimieren. Setze sich diese Entwicklung fort, werde das Riesenland eines Tages sogar die Basisnahrungsmittel Bohnen, Reis und Maniok importieren müssen, fürchtet Garcia: «Es wird nicht mehr genug Leute geben, die für den internen Verbrauch produzieren.»

Von Gerhard Dilger
Er ist Südamerikakorrespondent und lebt in Porto Alegre.

Erschienen in «amnesty - Magazin der Menschenrechte» vom September 2008
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion