«amnesty»: 31 Urteile durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte belegen, dass der russische Staat für zahlreiche Fälle von Folter und «Verschwindenlassen» in Tschetschenien verantwortlich ist. Welchen Einfluss hat dies auf die aktuelle Situation?
Zainap Gaschajewa: Diese Gerichtsurteile sind für die Opfer sehr wichtig. Dank ihnen erfährt die Welt, was in Tschetschenien wirklich geschehen ist. Damit wurden die Rechte der Personen anerkannt, die gelitten haben und von der russischen Justiz keine Gerechtigkeit erfahren haben. Doch leider ist der ganze Prozess sehr lang und sehr kompliziert. Auch hat der Menschenrechtsgerichtshof zu wenig Mittel, um den Krieg in Tschetschenien effektiv zu verurteilen. Wir fahren damit fort, mit den Hunderten von Beweisen zu arbeiten, die wir während der beiden Kriege gesammelt und versteckt haben. Es ist wichtig, dass sie allgemein nutzbar sind und verbreitet werden können. Es sind Archive, die eines Tages dazu beitragen werden, die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Die russische Armee hat ganze Dörfer zerstört, und die russischen Medien haben darüber geschwiegen. Selbst als 1999 eine Rakete auf den Markt von Grosny gefallen ist und mehr als 200 Menschen in den Tod gerissen hat, haben die Medien geschwiegen. Die offizielle Version lautete, dass es sich um einen internen Konflikt handle. Etwas anderes durften die Medien nicht veröffentlichen. Auch ich war an diesem Tag auf dem Markt und hatte meine Kamera dabei. Ich habe in der Stunde nach dem Attentat gefilmt. Ich ging in die vier öffentlichen Spitäler, ich sah die aufgestapelten Leichen und ich sammelte Zeugenaussagen. Aber als ich nach Moskau ging, um mein Material den Journalisten zu zeigen, hat nur ein einziger es gewagt, einen Bericht zu veröffentlichen.
Trotzdem befindet sich Tschetschenien heute im Wiederaufbau. Ist der Krieg damit offiziell zu Ende?
In der Tat ist die heutige Situation nicht mehr mit derjenigen vor noch fünf Jahren vergleichbar. Es gibt keine Flugzeuge mehr, keine Bomben. Der Krieg ist zu Ende, doch wir leiden nun an den Folgen des Kriegs. Unzählige Menschen haben schwere Krankheiten und leiden an der gravierenden Luftverschmutzung.
Mit welchen gesundheitlichen Problemen haben die Menschen in Tschetschenien zu kämpfen?
Krebs, Tuberkulose und Infarkte sind weit verbreitet. Viele junge Menschen zwischen zwanzig und dreissig Jahren sterben oder sind schwer krank. Auch ich habe meinen Bruder und meine Schwester verloren. Der Krieg hat keine Familie unversehrt gelassen, und jetzt verlieren viele weitere Angehörige wegen dieser Krankheiten. Vor wenigen Tagen erhielt ich die Nachricht, dass eine 30-jährige Mutter von sechs Kindern gestorben ist – sie sind jetzt alle Waisen. Obwohl der Krieg zu Ende ist, nimmt die Zahl der Waisen weiter zu. Eine weitere schlimme Tatsache ist, dass viele Kinder mit Missbildungen, mit mentalen oder nervlichen Beschwerden auf die Welt kommen. Teilweise werden Kinder ohne Köpfe oder ohne Hände geboren. Alle Gynäkologen, die ich interviewt habe, sagten mir, dass sie vor dem Krieg nie etwas Vergleichbares gesehen hätten.
Wie erklären Sie sich diese Phänomene?
Daraus lässt sich schliessen, dass unsere gesamte Umwelt total vergiftet ist: Die Erde, das Wasser und die Luft. Eine staatliche Arbeitsgruppe hat herausgefunden, dass es in Tschetschenien kein Trinkwasser mehr gibt. Die Kanalisationen wurden im Krieg zerstört und wir wissen nicht, wohin die Abwasser gehen. Luft und Wasser sind mit chemischen Substanzen vergiftet. All dies ist in diesem offiziellen Bericht festgehalten. Dabei hat diese Arbeitsgruppe nicht viele finanzielle Mittel, sie musste ihre Analysen mit veralteten Methoden machen. Aber es ist zu erwarten, dass da noch viel mehr zum Vorschein kommen wird: Die Raffinerien sind bombardiert worden und haben über Jahre hinweg gebrannt. Es gab Zeiten, in denen die Wäsche tiefschwarz wurde, wenn man sie zum Trocknen im Freien aufhängte.
Wie leben die Menschen heute? Mit welchen Mitteln?
Die meisten haben riesige Geldprobleme. Ein kleiner Prozentsatz der Leute arbeitet in staatlichen Institutionen wie Schulen, Universitäten, Spitälern, die wieder funktionieren. 70 bis 80 Prozent der TschetschenInnen sind jedoch arbeitslos. Die Menschen überleben nur dank einem sehr starken System der gegenseitigen Hilfe. Sie tun alles, um die Kranken zu pflegen, und verschulden sich dafür sogar bei Nachbarn.
Erschienen in «amnesty - Magazin der Menschenrechte» vom September 2008
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion