«Hunderte von Menschen, die in Nigeria bereits hingerichtet wurden oder noch hingerichtet werden sollen, haben eines gemeinsam: Sie sind arm», erklärt Chino Obiagwu, der nationale Koordinator der nigerianischen Menschenrechtsorganisation LEDAP. Im Gespräch mit zahlreichen zum Tode Verurteilten sei klar geworden, dass die Frage von Schuld oder Unschuld in Nigerias Strafrechtssystem weitgehend unbedeutend sei. «Es geht nur darum, ob Du es Dir leisten kannst, Geld auszugeben, um Dich aus dem System rauszuhalten», betont Obiagwu. Das kann heissen, die Polizei dafür zu bezahlen, den eigenen Fall gründlich zu untersuchen, sich einen Verteidiger leisten zu können oder dafür bezahlen zu können, auf eine Liste für Begnadigungen zu kommen.
Hunderte von Menschen, die in Nigeria zum Tode verurteilt wurden, haben keinen fairen Prozess erhalten und sind vermutlich unschuldig. Zu diesem Schluss ist der im Oktober 2008 von Amnesty International (AI) gemeinsam mit LEDAP veröffentlichte Bericht «Nigeria: ‹Waiting for the Hangman›» über die Todesstrafe in Nigeria gekommen. Es sei schockierend, sich vorzustellen, wie viele Unschuldige in Nigeria bereits hingerichtet worden seien, kommentiert Aster van Kregten, der AI-Experte für Nigeria. Das Rechtssystem beinhalte eine Vielzahl von Mängeln, die verheerende Folgen haben könnten.
Zeugen unter Anklage
Im Februar 2008 sassen mindestens 725 Männer und 11 Frauen in den Todeszellen Nigerias. Die meisten von ihnen wurden nach Geständnissen verurteilt, die unter Folter zustande gekommen sind. 80 Prozent der GefägnisinsassInnen geben an, in Polizeigewahrsam geschlagen oder gefoltert worden zu sein. «Die Polizei ist überfordert und verfügt nur über wenig Mittel», erklärt van Kregten. Um eine hohe Rate an aufgeklärten Verbrechen vorweisen zu können, stütze sie sich lieber auf Geständnisse statt auf teure Untersuchungen. Der nigerianische Staatsanwalt Williams Ashu bestätigte gegenüber dem britischen Radiosender BBC, der AI-Bericht greife tatsächlich bestehende Probleme auf.
Um rasche Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung vorweisen zu können, nimmt die Polizei statt des Verdächtigten nicht selten einen Verwandten oder gar einen Zeugen fest, der dann verurteilt wird. Der 57-jährige Jafar sitzt seit 1984 in der Todeszelle. «Ich bin kein bewaffneter Räuber, ich bin ein Schuhmacher», betonte Jafar im Gespräch mit der AI-Untersuchungsdelegation. Er habe ein Motorrad von jemandem gekauft, der es gestohlen habe. «Die Polizei fragte mich, ob ich als Zeuge auftreten würde.» Der Motorraddieb wurde gefasst, aber bei der Festnahme von der Polizei erschossen. «Danach machten sie mich zum Verdächtigen.» Jafar hat vor 24 Jahren Berufung gegen das Todesurteil eingelegt, aber er wartet immer noch auf die Berufungsverhandlung. Seine Prozessakte ist verschwunden.
Jugendlicher hingerichtet
Am 31. Juli 1997 wurde der 17-jährige Chiebore Onuoha nach einem unfairen Prozess zusammen mit fünf weiteren zum Tod Verurteilten hingerichtet. Zum Zeitpunkt der angeblichen Tat, eines Raubüberfalls, war Onuoha 15 Jahre alt. Nigeria gehört damit zu den 9 Staaten, die seit 1990 mindestens 61 jugendliche Straftäter hingerichtet haben. In nigerianischen Gefängnissen sitzen heute mindestens 40 zum Tode Verurteilte, die zum Zeitpunkt der angeblichen Straftat zwischen 13 und 17 Jahre alt waren.
Einer von ihnen ist Patrik Okoraofar, der 1995 als 14-Jähriger gemeinsam mit Chiebore Onuoha festgenommen wurde. Obwohl seine Mutter bezeugte, dass er zur Tatzeit zu Hause gewesen und sich von einem Asthmaanfall erholt habe, wurde er 1997 zum Tod verurteilt. Im Gegensatz zu Onuoha wurde seine Strafe in lebenslange Haft umgewandelt. 2001 bezeichnete das Oberste Gericht die 1997 gegen Okoraofar verhängte Todesstrafe als «illegal und damit null und nichtig». Der Freigesprochene muss aber so lange weiter im Gefängnis bleiben, «wie es dem Gouverneur des Bundesstaates Imo beliebt» – also auf unbestimmte Zeit.
Zwischen 1970 und 1999 wurden in Nigeria mehr als 2600 Menschen hingerichtet. Obwohl seit der Wahl von Olusegun Obasanjo zum Staatspräsidenten 1999 ein inoffizielles Todesstrafenmoratorium gilt, wurden bis 2008 mindestens 22 Todesurteile vollstreckt. Der aus dem christlichen Süden Nigerias stammende Obasanjo setzte zwei Expertengruppen zur Todesstrafe ein, die beide ein Hinrichtungsmoratorium empfehlen. «Die Forderung nach einem offiziellen Hinrichtungsmoratorium beruht auf der Überzeugung, dass die Regierung die Systemfehler im Strafrechtswesen nicht länger ignorieren kann», stellte die nationale Studiengruppe zur Todesstrafe 2004 fest.
Moratorium gefordert
Die Beibehaltung der Todesstrafe wird vor allem im Norden Nigerias gefordert, wo in den muslimisch dominierten Bundesstaaten das islamische Rechtssystem der Scharia gilt. Mit Umaru Yar’Adua wurde im Mai 2007 ein Vertreter des Nordens zum Nachfolger Obasanjos gewählt. Folgerichtig lehnte Nigeria im Dezember 2007 die Uno-Resolution für ein weltweites Hinrichtungsmoratorium ab. Die Diskussionen in Nigeria gehen allerdings weiter. Im Juli dieses Jahres haben drei Abgeordnete eine Gesetzesinitiative zur Abschaffung der Todesstrafe eingereicht.
AI und LEDAP fordern die Regierung Nigerias auf, Führungsstärke zu zeigen und sich den Empfehlungen ihrer Expertenkommissionen und dem Hinrichtungsmoratorium der Uno-Generalversammlung anzuschliessen. «Die öffentliche Meinung darf nicht als Rechtfertigung für die Verletzung von Menschenrechten gebraucht werden», hält van Kregten fest.
Erschienen in «amnesty - Magazin der Menschenrechte» vom November 2008
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion