Maher Arar, 38, betritt den Raum und strahlt Selbstbewusstsein aus. Lässiger Gang, direkter Blick, fester Händedruck. Eine Souveränität, um die der arbeitslose Informatiker oft ringen muss, seit am 26. September 2002 seine Welt in ein Davor und ein Danach zerfallen ist. An jenem Donnerstag bestieg er in Zürich ein Flugzeug und landete zu einem Zwischenstopp auf dem New Yorker Kennedy-Flughafen – zu Hause, im kanadischen Ottawa, kam er erst 374 Tage später an.
Der Kanadier wurde im Auftrag der USA nach Syrien verschleppt und dort gefoltert. Uniformierte Männer baten ihn bei seiner Ankunft in New York aus der Schlange. Routine, hiess es. Sie nahmen seine Fingerabdrücke und fotografierten ihn. Dann tauchten andere Männer auf, um ihm Fragen zu stellen. Unzählige Verhörstunden und eine Woche später bekam er ein Stück Papier, auf dem habe etwas gestanden wie: «Wir sind überzeugt, dass Sie Mitglied einer terroristischen Organisation sind.» Wie die Beamten der US-Einwanderungsbehörde und des FBI auf diese Idee kamen? Indizien? Beweise? «Das ist geheim», war die lapidare Erklärung.
Eingebürgert
Mit 17 Jahren war Arar gemeinsam mit seinen Eltern aus dem syrischen Damaskus nach Kanada ausgewandert, wo bereits seine sechs älteren Geschwister lebten. Mit 21 wurde er eingebürgert. Seitdem hat er zwei Pässe, denn die Syrer erlauben es nicht, die Staatsbürgerschaft abzulegen.
In Kanada studierte Arar Informatik und Kommunikationselektronik. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung arbeitete er als freier Berater für ein führendes US-amerikanisches Softwareunternehmen, The MathWorks, und versuchte, parallel seine eigene Firma aufzubauen. Mit seiner Expertise in Digitaler Signalverar-beitung schwamm er ganz oben mit auf der Welle der technischen Entwicklung. Dann kam der Tag, der sein Leben veränderte. Dafür reichte es, dass er Abdullah Almalki kannte. Ein anderer syrischstämmiger Kanadier in Ottawa, der verdächtigt wurde, Kontakte zu al-Qaida zu haben. Auch Almalki konnte keinerlei Schuld nachgewiesen werden. «In Syrien hätte es mich nicht gewundert, wenn mir das passiert wäre», sagt Maher Arar, «aber in den USA? Mit meinem kanadischen Pass?»
Entführt
Heute gilt als sicher, dass er in das berüchtigte syrische Gefängnis Far Falestin gebracht wurde, um dort gefoltert zu werden. Arar ist eines der bekanntesten Opfer einer «Extraordinary Rendition», einer ausserordentlichen Überstellung. Vor allem seit dem Beginn des «Kriegs gegen den Terror» hat der US-Geheimdienst CIA zahlreiche Verdächtige in Länder wie Syrien oder Afghanistan gebracht, um ihnen dort durch Folter und menschenunwürdige Haftbedingungen Geständnisse abpressen zu lassen. Der Untersuchungsbericht der kanadischen Regierung zum Fall Maher Arar kam 2006 zum Schluss, dass falsche und unfaire Informationen der kanadischen Polizei dazu geführt hatten, dass die US-Behörden Arar festgenommen und nach Syrien entführt hatten.
Eindeutige Botschaft
Beim ersten Verhör in Far Falestin sagte einer der Männer zu Arar: «Ich will, dass du mir dein ganzes Leben erzählst, vom Moment deiner Geburt bis zu deiner Ankunft hier.» Im Raum stand ein metallener Stuhl ohne Sitz. Sie hätten ihn gefragt: «Willst du, dass ich den anwende?», erinnert sich Arar und zieht fast unmerklich die Luft zwischen den Zähnen ein. Obwohl er keine Ahnung hatte, wie mit dem Stuhl gefoltert wurde, war die Botschaft eindeutig.
Er wurde in eine Zelle gebracht, die gut 85 Zentimeter breit, 1,85 Meter lang und kaum 2 Meter hoch war. Arar ist um die 1,90 Meter gross. Die Zelle lag unter der Erde. Er nennt sie «das Grab». In dieser Zelle war er zehn Monate und zehn Tage eingekerkert. «Da festgehalten zu werden, ohne zu wissen, was mit meiner Familie passiert – da fühlt sich ein Jahr wie hundert Jahre an.»
Sein Sohn Houd war damals noch kein Jahr alt, die Tochter Barâa war fünf. Seine Frau Monia Mazigh, heute 39, war mit 21 Jahren aus Tunesien nach Kanada eingewandert und hatte ihren Doktor in Wirtschaftswissenschaften gemacht. Die beiden hatten sich während des Studiums kennengelernt und 1994 geheiratet.
Am zweiten Tag in Far Falestin begannen die Schläge. Ohne Vorwarnung wurde er mit einem Elektrokabel geschlagen, dann erneut befragt. Das Verhör dauerte mit Unterbrechungen 16 Stunden, vielleicht auch 18. So genau weiss er das heute nicht mehr. Er weinte an diesem Tag. Er nässte sich ein. «Sie haben mich gefragt, ob ich in Afghanistan war», erinnert er sich. Die Vermutung, er habe dort ein Ausbildungslager besucht, wird ein Hauptvorwurf. Und immer wieder Fragen zu Abdullah Almalki in Ottawa, den er kaum kannte.
Unterschrift mit Folgen
Arar hatte eine Zeitlang bei derselben Firma wie Almalkis Bruder gearbeitet. Als er von Montreal nach Ottawa zog, brauchte er jemanden, der als Kontaktperson den Mietvertrag gegenzeichnete. Almalkis Bruder hatte keine Zeit und sandte stattdessen Abdullah. Schon beim Verhör in New York zogen die US-Beamten plötzlich eine Kopie des Vertrags hervor. Für Maher Arar der erste Beweis, dass die USA und Kanada seinetwegen in Verbindung standen. «Die Unterzeichnung dieses Mietvertrags war für mich eine absolute Lappalie», sagt er, «bis sie den herausholten, hatte ich das vollkommen vergessen.» Almalki wurde in Far Falestin zu seinem Zellennachbarn unter der Erde.
Maher Arar sagt, er sei nie in Afghanistan gewesen. Das entgegnete er auch seinen Folterern. Schläge. Dreimal, viermal. Dann dieselben Fragen. Schläge, Fragen, wieder und wieder. Zwischendurch wurde er in einen leeren Raum gebracht. «Um zu hören, wie andere gefoltert werden», sagt er, «am Ende ist dir egal, was du antwortest, weil sie sowieso nicht an der Wahrheit interessiert sind, sondern allein daran, Informationen aus dir herauszubekommen.»
Maher Arar gestand, in Afghanistan gewesen zu sein und die Männer lächelten erfreut. Im Lauf der Verhöre habe er nicht einmal mehr den Fragen zugehört. «Du denkst nicht über deine Antworten nach, sondern darüber, wie du am Leben bleibst», sagt er.
Kanadisches Doppelspiel
Bei den ersten Besuchen des kanadischen Konsuls schwieg er über die Haftbedin-gungen, aus Angst vor den anwesenden syrischen Beamten. Beim siebten Besuch des Konsuls beschloss er, sich zu offenbaren, selbst wenn es weitere Folter bedeuten sollte. In weniger als einer Minute erzählte er von der Zelle, von den Schlägen. Dann habe ihn der Konsul gefragt, ob er gelähmt sei. Und er erinnert sich, wie merkwürdig er die Frage gefunden hat, denn der Konsul hatte ihn ins Besuchszimmer gehen sehen. «Heute ist klar, warum er diese Fragen gestellt hat», sagt Arar: Der Botschafter hatte den Konsul beauftragt, die Foltervorwürfe zu entkräften, es ging nicht darum, herauszufinden, ob er gefoltert worden sei. In Kanada hatte seine Frau begonnen, für seine Freilassung zu kämpfen. Die kanadischen Medien spekulierten über sein Schicksal und wurden für die Regierung unbequem.
Das war im August 2003. Fünf Tage später wurde er gezwungen, ein schriftliches Geständnis abzulegen. Danach wurde er ins Gefängnis Sednaya verlegt. Er war von 80 auf 60 Kilogramm abgemagert. Am 5. Oktober wurde er entlassen und noch am selben Tag nach Kanada ausgeflogen. «Ich war wie ein Hund», beschreibt er sich in der Phase nach seiner Rückkehr, «ich war unterwürfig, schwach und habe alle Entscheidungen an meine Frau abgegeben. Ich war vollkommen zerstört.»
Freispruch
Im Januar 2004 richtete die Regierung auf Druck von Menschenrechtsorganisationen die Arar-Kommission ein. Am 18. September 2006 wurde Arar von allen Verdachtsmomenten freigesprochen und erhielt eine Wiedergutmachungssumme von 11,5 Mio. kanadischen Dollar (10,6 Mio. Franken) zugesprochen. In den USA hatte das Center for Constitutional Rights ebenfalls im Januar 2004 in Arars Namen Klage gegen den damaligen Justizminister John Ashcroft und gegen FBI-Direktor Robert Mueller eingereicht. Am 9. Dezember 2008 soll es in diesem Fall zu einer Anhörung kommen.
Heute hält Maher Arar Journalisten von seiner Familie fern. Seine Doktorarbeit über drahtlose Kommunikation steht kurz vor dem Abschluss. Eigentlich wäre es Zeit, sich für eine Stelle zu bewerben. Finanziell ist die Familie abgesichert. «Ein Job wäre gut für meine Zufriedenheit», sagt er. Doch seit er unter Terrorismusverdacht stand, laufen alle Bewerbungen ins Leere.
Ob er sich noch als Kanadier fühlt? Eine Weile habe er damit gerungen. «Inzwischen denke ich, dass Menschen hier aufgestanden sind gegen die Ungerechtigkeit, die mir widerfahren ist. Das macht mich stolz, Kanadier zu sein.»
Erschienen in «amnesty - Magazin der Menschenrechte» vom November 2008
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion