MAGAZIN AMNESTY Guantánamo Recht im Unrecht

Mit Barack Obamas Antritt ist die Chance gewachsen, dass Guantánamo bald der Vergangenheit angehören wird. Schon vorher brachten zahlreiche Juristen und Juristinnen den Gefangenen einen Funken Hoffnung. Zwei Anwältinnen aus Boston erzählen.

«Als uns im Sommer 2006 die Nach­­richt erreichte, dass sich drei Guan­­tánamo-Häft­linge das Leben ge­nom­­men hatten, war unser Mass gestrichen voll», erzählt El­len Lubell. «Wir wus­sten, dass wir un­se­re Hilfe anbieten mussten.» Ge­mein­sam mit ihrer Kanz­lei­partnerin Doris Ten­nant bewarb sich die Anwältin aus einem Vorort Bostons daraufhin als Rechtsbeistand für einen der rund 250 Männer, die nach wie vor in dem Lager auf Kuba festgehalten werden. Gleich zu Beginn wurde den beiden klargemacht, dass die Arbeit kein Zucker­schlec­ken wird: Sie ist zeitintensiv und reich an Frus­trationen – Geld dagegen bringt sie keine ein. Im Gegenteil: Die beiden Frau­en haben seither Zehn­tau­sen­de von Dollars ausgegeben, um ihren Man­­dan­ten zu vertreten.

Trotz dieser harschen Rahmen­be­din­gun­­gen werden längst nicht alle genommen, die sich als Anwälte für die Guan­tá­namo-Gefangenen bewerben. Tennant und Lubell gelangten zuerst an das Cen­ter for Constitutional Rights, eine in New York domizilierte Menschenrechtsor­ga­ni­­sation. Deren Screening überstanden, folgte die Prüfung durch das FBI. «Sie nah­­men alles unter die Lupe: unseren Leu­­mund, die bisherige Arbeit, den Ge­sund­heitszustand. Familien­mitglie­der und Leute aus der Nachbarschaft wurden befragt.» Während der ganzen Prozedur stand die unausgesprochene Drohung im Raum, dass die Akkreditierung auf unabsehbare Zeit verzögert würde.

Wechselnde Regeln


Mit der Ak­kreditierung waren die Schwie­rig­kei­ten nicht zu Ende. Der Weg nach Guan­tá­­namo ist lang. Zuerst die Reise von Bos­ton nach Florida. Dann der Flug hin­ü­ber nach Kuba in einer winzigen Ma­schi­ne, die oft lange im Voraus ausgebucht ist. Bei Tennants erstem Überflug tobte ein Sturm in der subtropischen Region. «Wir dachten, dass wir diesen Flug nicht überstehen. Seither nehme ich ein Beruhi­gun­gsmittel, bevor ich ins Flugzeug steige.»

Die Tore zum Gefangenenlager Guan­tánamo sind gut bewacht. «In dieser ku­ba­nischen Bucht haben die USA ein Hoch­­sicherheitsgefängnis nach allen Re­geln der Kunst errichtet», sagt Lubell. Un­zählige Türen gibt es zu passieren. Dass die Besucherinnen gefilzt werden, ist selbstredend. Beim letzten Besuch wa­­ren runde Ohrringe, Büroklammern und offene Sandalen verboten – «Das sind Waffen, wussten Sie das nicht», erklärt Lu­­bell der verdutzten Zuhörerin. Ange­sichts der ständig ändernden Vor­schrif­ten bleibt oft nur die Flucht in die Ironie.

Vertrauen erarbeitet


Tennant und Lubell vertreten einen 34-jährigen Al­gerier. Fast seltsam klingt es angesichts all der gebrochenen Rechte im Gefan­ge­nen­lager, wenn die beiden von «unserem Mandanten» sprechen. Der junge Mann wur­de im Mai 2002 im pakistanischen Peschawar aufgegriffen und im Au­gust 2002 in das Lager gebracht. Er hatte im Jahr zuvor sein rechtes Bein verlo­ren, als er in Kaschmir auf eine Land­mine trat. Dort war er für eine wohltätige Orga­ni­sa­ti­on tätig, was die US-Behörden je­doch zuerst nicht glauben wollten. Sie verdäch­tigten ihn, dass er Teil einer terror­isti­schen Organisation sei.

Dass ihr Mandant ein gefährlicher Ter­­­rorist sei, können Tennant und Lu­bell nicht glauben. «Wir haben seinen Fall mit all unserer beruflichen Expertise ge­prüft und wir zweifeln nicht an seiner Dar­stel­lung. Wir würden ihn jederzeit einladen, uns zu Hause zu besuchen», sagen beide. Das Vertrauensverhältnis mussten sie sich erarbeiten. Aus Respekt für seinen mus­limischen Glauben trug Doris Ten­nant beim ersten Treffen lange Kleider und einen Schleier. «Er schaute mir nicht in die Augen. Erst beim vierten Treffen hatten wir Augenkontakt.» Was der Al­ge­rier zu erzählen hatte, ist nicht leicht zu er­tragen. «Er wurde gefoltert und missbraucht. Wir dürfen nicht sagen, was mit ihm genau geschehen ist. Nur so viel: Was immer man an Schlechtem aus Guan­tá­na­mo gehört hat – unserem Mandanten ist es widerfahren.»


Überforderte Soldaten


Viele der Wachmänner begehen Missbräuche. Verprügeln Gefangene, wenn ihnen da­nach ist. Sie nahmen dem Algerier die Bein­prothese und ersetzen sie durch eine schlechtere. «Die Soldaten sind überfordert. Guantánamo wird von 19-Jährigen be­trieben!», schildert Doris Tennant.
Verheerend für den Algerier und sei­ne Mithäftlinge ist die Isolation. «Sie dach­ten, die Welt habe sie vergessen. Un­ser Mandant hatte solche Angst da­vor, dass man ihn einfach vergessen würde, dass er einmal sogar freiwillig um ein Verhör bat.» Was das bedeutet, ist allen klar, die von den unter George W. Bush ein­geführten «besonderen Befragungs­me­t­hoden» gehört haben. Verhöre hin oder her – in eine Anklage mündeten sie nie. Auch nach über sechsjähriger Haft folgte kein Gerichtsverfahren.


Enorme Kraft nötig


«Wir be­wun­­dern die geistige Stärke unseres Man­danten zutiefst», betonen Tennant und Lu­bell. «Wir wissen nicht, wo er die Kraft her­nimmt.» Und wie verkraften die beiden Anwältinnen selbst die Eindrücke aus dem «Symbol der Ungerechtigkeit», wie Menschenrechtsorganisationen Guan­­­tá­na­mo nennen? Wie gehen sie mit all dem um, was sie gehört und gesehen haben, dem moralischen Druck und den gelegentlichen Anfeindungen von aufrechten US-Amerikanern und -Amerikane­rin­nen? «Man lernt damit zu leben», so die bescheidene Antwort. «Wir erhalten in den USA auch viel Unterstützung.»


Die beiden mögen ihre Erfahrung nicht in den Mittelpunkt stellen und kommen sofort wieder auf ihren Man­daten zu sprechen. Auch dabei stehen ihnen Hindernisse im Weg: Jedes Stück Papier, das ihnen ihr Mandant übergibt, jede Gesprächsnotiz, die sie sich machen, wird anschliessend von den zuständigen US-Behörden überprüft. Nur was freigegeben ist, dürfen die Anwältinnen gegenüber Dritten erwähnen. Die Geheimhaltung verhindert in manchen Fällen, dass die beiden alle Hebel zugunsten ihres Mandanten in Bewegung setzen können.


Asylgesuch in der Schweiz


Doris Tennant und Ellen Lubell taten ihr Möglichstes, den jungen Algerier aus Guantánamo herauszubringen. Sie schrieben Antrag um Antrag an die US-Behörden, dann reichten sie ein Asylgesuch in der Schweiz ein. Selbst die US-Regierung glaubt nicht mehr, dass der junge Mann ein Terrorist ist: Bereits die Bush-Regierung hat den Algerier zur Freilassung bestimmt. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass er einfach durch die Tore Guan­tá­namos spazieren und mit dem nächsten Flieger nach Hause reisen kann. Sichere Aufnahme­län­der tun Not (siehe unten).

Vielleicht gibt es in der Geschichte des Mandanten von Tennant und Lubell doch noch ein Happyend. Doris Tennant erzählt, was sie sich beim ersten Besuch in Guan­tá­na­mo vorgestellt hat: «Ich hatte ein Bild vor meinem inneren Auge: In ein paar Jahren spaziere ich mit meinen Enkeln durch das Lager auf Guantánamo Bay. Es ist nur noch ein Mahnmal, das uns an dieses dunkle Kapitel erinnern soll.» Die Hoffnung bleibt, dass diese Vision wahr wird. Und dass der 34-jährige Algerier und alle anderen zu Unrecht im Lager festgehaltenen Männer das erhalten, was sie den Anwältinnen zufolge am dringendsten benötigen: «Vor allem anderen brauchen sie eine Entschuldigung.»

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Wege aus der Sackgasse
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Nach über sieben Jahren ist das En­de von Guantánamo greifbar na­he gerückt. Präsident Barack Obama hat angeordnet, das La­ger innert eines Jahres zu schliessen. Doch es gilt, gerechte und siche­re Lösungen für die noch ver­bliebenen rund 250 Gefan­ge­nen zu finden. Von den insgesamt rund 800 Gefangenen wurden inzwischen zwei Drittel ohne Anklage freigelassen. Zentral ist, dass nicht einfach ein neues La­ger an einem anderen Ort entsteht. Die Gefangenen, die weiter unter Terrorismusverdacht stehen, müssen vor einem ordentlichen Zivilgericht in einem fairen Verfahren angeklagt werden. Jene Häftlinge, die nicht mehr unter Verdacht stehen und von den USA zur Freilassung bestimmt wurden, sollen unverzüglich in ihre Heimatländer zurückkehren können.


Das gilt allerdings nicht für alle. Rund 50 Gefangenen drohen in ihren Herkunftsländern erneut Folter, Gefängnis oder gar die Todesstrafe. Auch wenn vor allem die USA hier eine Lösung finden müssen, so ist auch die Hilfe anderer Staaten nötig. Die Schweiz zeigte sich zuerst zö­gerlich: Das Bundesamt für Migration hat im November 2008 die Asylgesuche von drei Häftlingen aus Libyen, Algerien und China abgelehnt, darunter den Antrag des Mandanten von Ellen Lubell und Do­ris Tennant. Amnesty International unterstützt eine laufende Be­schwer­de gegen diesen Entscheid vor dem Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt.
Hoffnungsvollere Signale gab es nach dem Antritt Obamas: Der Bun­des­rat hat am 22. Januar 2009 angekündigt, dass die Schweiz bereit sei zu prüfen, ob und inwiefern sie Häftlinge aufnehmen kann. Auch die EU sucht nach Lösungen. Frankreich und Portugal haben angekün­digt, Häftlingen humanitären Schutz gewähren zu wollen.


Erschienen in «amnesty - Magazin der Menschenrechte» vom Februar 2009
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion