«Als uns im Sommer 2006 die Nachricht erreichte, dass sich drei Guantánamo-Häftlinge das Leben genommen hatten, war unser Mass gestrichen voll», erzählt Ellen Lubell. «Wir wussten, dass wir unsere Hilfe anbieten mussten.» Gemeinsam mit ihrer Kanzleipartnerin Doris Tennant bewarb sich die Anwältin aus einem Vorort Bostons daraufhin als Rechtsbeistand für einen der rund 250 Männer, die nach wie vor in dem Lager auf Kuba festgehalten werden. Gleich zu Beginn wurde den beiden klargemacht, dass die Arbeit kein Zuckerschlecken wird: Sie ist zeitintensiv und reich an Frustrationen – Geld dagegen bringt sie keine ein. Im Gegenteil: Die beiden Frauen haben seither Zehntausende von Dollars ausgegeben, um ihren Mandanten zu vertreten.
Trotz dieser harschen Rahmenbedingungen werden längst nicht alle genommen, die sich als Anwälte für die Guantánamo-Gefangenen bewerben. Tennant und Lubell gelangten zuerst an das Center for Constitutional Rights, eine in New York domizilierte Menschenrechtsorganisation. Deren Screening überstanden, folgte die Prüfung durch das FBI. «Sie nahmen alles unter die Lupe: unseren Leumund, die bisherige Arbeit, den Gesundheitszustand. Familienmitglieder und Leute aus der Nachbarschaft wurden befragt.» Während der ganzen Prozedur stand die unausgesprochene Drohung im Raum, dass die Akkreditierung auf unabsehbare Zeit verzögert würde.
Wechselnde Regeln
Mit der Akkreditierung waren die Schwierigkeiten nicht zu Ende. Der Weg nach Guantánamo ist lang. Zuerst die Reise von Boston nach Florida. Dann der Flug hinüber nach Kuba in einer winzigen Maschine, die oft lange im Voraus ausgebucht ist. Bei Tennants erstem Überflug tobte ein Sturm in der subtropischen Region. «Wir dachten, dass wir diesen Flug nicht überstehen. Seither nehme ich ein Beruhigungsmittel, bevor ich ins Flugzeug steige.»
Die Tore zum Gefangenenlager Guantánamo sind gut bewacht. «In dieser kubanischen Bucht haben die USA ein Hochsicherheitsgefängnis nach allen Regeln der Kunst errichtet», sagt Lubell. Unzählige Türen gibt es zu passieren. Dass die Besucherinnen gefilzt werden, ist selbstredend. Beim letzten Besuch waren runde Ohrringe, Büroklammern und offene Sandalen verboten – «Das sind Waffen, wussten Sie das nicht», erklärt Lubell der verdutzten Zuhörerin. Angesichts der ständig ändernden Vorschriften bleibt oft nur die Flucht in die Ironie.
Vertrauen erarbeitet
Tennant und Lubell vertreten einen 34-jährigen Algerier. Fast seltsam klingt es angesichts all der gebrochenen Rechte im Gefangenenlager, wenn die beiden von «unserem Mandanten» sprechen. Der junge Mann wurde im Mai 2002 im pakistanischen Peschawar aufgegriffen und im August 2002 in das Lager gebracht. Er hatte im Jahr zuvor sein rechtes Bein verloren, als er in Kaschmir auf eine Landmine trat. Dort war er für eine wohltätige Organisation tätig, was die US-Behörden jedoch zuerst nicht glauben wollten. Sie verdächtigten ihn, dass er Teil einer terroristischen Organisation sei.
Dass ihr Mandant ein gefährlicher Terrorist sei, können Tennant und Lubell nicht glauben. «Wir haben seinen Fall mit all unserer beruflichen Expertise geprüft und wir zweifeln nicht an seiner Darstellung. Wir würden ihn jederzeit einladen, uns zu Hause zu besuchen», sagen beide. Das Vertrauensverhältnis mussten sie sich erarbeiten. Aus Respekt für seinen muslimischen Glauben trug Doris Tennant beim ersten Treffen lange Kleider und einen Schleier. «Er schaute mir nicht in die Augen. Erst beim vierten Treffen hatten wir Augenkontakt.» Was der Algerier zu erzählen hatte, ist nicht leicht zu ertragen. «Er wurde gefoltert und missbraucht. Wir dürfen nicht sagen, was mit ihm genau geschehen ist. Nur so viel: Was immer man an Schlechtem aus Guantánamo gehört hat – unserem Mandanten ist es widerfahren.»
Überforderte Soldaten
Viele der Wachmänner begehen Missbräuche. Verprügeln Gefangene, wenn ihnen danach ist. Sie nahmen dem Algerier die Beinprothese und ersetzen sie durch eine schlechtere. «Die Soldaten sind überfordert. Guantánamo wird von 19-Jährigen betrieben!», schildert Doris Tennant.
Verheerend für den Algerier und seine Mithäftlinge ist die Isolation. «Sie dachten, die Welt habe sie vergessen. Unser Mandant hatte solche Angst davor, dass man ihn einfach vergessen würde, dass er einmal sogar freiwillig um ein Verhör bat.» Was das bedeutet, ist allen klar, die von den unter George W. Bush eingeführten «besonderen Befragungsmethoden» gehört haben. Verhöre hin oder her – in eine Anklage mündeten sie nie. Auch nach über sechsjähriger Haft folgte kein Gerichtsverfahren.
Enorme Kraft nötig
«Wir bewundern die geistige Stärke unseres Mandanten zutiefst», betonen Tennant und Lubell. «Wir wissen nicht, wo er die Kraft hernimmt.» Und wie verkraften die beiden Anwältinnen selbst die Eindrücke aus dem «Symbol der Ungerechtigkeit», wie Menschenrechtsorganisationen Guantánamo nennen? Wie gehen sie mit all dem um, was sie gehört und gesehen haben, dem moralischen Druck und den gelegentlichen Anfeindungen von aufrechten US-Amerikanern und -Amerikanerinnen? «Man lernt damit zu leben», so die bescheidene Antwort. «Wir erhalten in den USA auch viel Unterstützung.»
Die beiden mögen ihre Erfahrung nicht in den Mittelpunkt stellen und kommen sofort wieder auf ihren Mandaten zu sprechen. Auch dabei stehen ihnen Hindernisse im Weg: Jedes Stück Papier, das ihnen ihr Mandant übergibt, jede Gesprächsnotiz, die sie sich machen, wird anschliessend von den zuständigen US-Behörden überprüft. Nur was freigegeben ist, dürfen die Anwältinnen gegenüber Dritten erwähnen. Die Geheimhaltung verhindert in manchen Fällen, dass die beiden alle Hebel zugunsten ihres Mandanten in Bewegung setzen können.
Asylgesuch in der Schweiz
Doris Tennant und Ellen Lubell taten ihr Möglichstes, den jungen Algerier aus Guantánamo herauszubringen. Sie schrieben Antrag um Antrag an die US-Behörden, dann reichten sie ein Asylgesuch in der Schweiz ein. Selbst die US-Regierung glaubt nicht mehr, dass der junge Mann ein Terrorist ist: Bereits die Bush-Regierung hat den Algerier zur Freilassung bestimmt. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass er einfach durch die Tore Guantánamos spazieren und mit dem nächsten Flieger nach Hause reisen kann. Sichere Aufnahmeländer tun Not (siehe unten).
Vielleicht gibt es in der Geschichte des Mandanten von Tennant und Lubell doch noch ein Happyend. Doris Tennant erzählt, was sie sich beim ersten Besuch in Guantánamo vorgestellt hat: «Ich hatte ein Bild vor meinem inneren Auge: In ein paar Jahren spaziere ich mit meinen Enkeln durch das Lager auf Guantánamo Bay. Es ist nur noch ein Mahnmal, das uns an dieses dunkle Kapitel erinnern soll.» Die Hoffnung bleibt, dass diese Vision wahr wird. Und dass der 34-jährige Algerier und alle anderen zu Unrecht im Lager festgehaltenen Männer das erhalten, was sie den Anwältinnen zufolge am dringendsten benötigen: «Vor allem anderen brauchen sie eine Entschuldigung.»
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Wege aus der Sackgasse
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Nach über sieben Jahren ist das Ende von Guantánamo greifbar nahe gerückt. Präsident Barack Obama hat angeordnet, das Lager innert eines Jahres zu schliessen. Doch es gilt, gerechte und sichere Lösungen für die noch verbliebenen rund 250 Gefangenen zu finden. Von den insgesamt rund 800 Gefangenen wurden inzwischen zwei Drittel ohne Anklage freigelassen. Zentral ist, dass nicht einfach ein neues Lager an einem anderen Ort entsteht. Die Gefangenen, die weiter unter Terrorismusverdacht stehen, müssen vor einem ordentlichen Zivilgericht in einem fairen Verfahren angeklagt werden. Jene Häftlinge, die nicht mehr unter Verdacht stehen und von den USA zur Freilassung bestimmt wurden, sollen unverzüglich in ihre Heimatländer zurückkehren können.
Das gilt allerdings nicht für alle. Rund 50 Gefangenen drohen in ihren Herkunftsländern erneut Folter, Gefängnis oder gar die Todesstrafe. Auch wenn vor allem die USA hier eine Lösung finden müssen, so ist auch die Hilfe anderer Staaten nötig. Die Schweiz zeigte sich zuerst zögerlich: Das Bundesamt für Migration hat im November 2008 die Asylgesuche von drei Häftlingen aus Libyen, Algerien und China abgelehnt, darunter den Antrag des Mandanten von Ellen Lubell und Doris Tennant. Amnesty International unterstützt eine laufende Beschwerde gegen diesen Entscheid vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Hoffnungsvollere Signale gab es nach dem Antritt Obamas: Der Bundesrat hat am 22. Januar 2009 angekündigt, dass die Schweiz bereit sei zu prüfen, ob und inwiefern sie Häftlinge aufnehmen kann. Auch die EU sucht nach Lösungen. Frankreich und Portugal haben angekündigt, Häftlingen humanitären Schutz gewähren zu wollen.
Erschienen in «amnesty - Magazin der Menschenrechte» vom Februar 2009
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion