Die bunten Blumen und die neuen Strassenlaternen, die seit Kurzem den Weg zum Gefängnis säumen, lenken nur wenig von der Trostlosigkeit des Ortes ab, der in der neueren Geschichte Iraks so viele Schlagzeilen machte. Die öde Landschaft ringsherum und die hohen Mauern mit Stacheldraht, die den 110 Hektar grossen Komplex umgeben, lassen schon von Weitem erahnen, dass es nichts Gutes verheisst, wenn man hier einsitzt. Darüber können auch die seit einigen Wochen mit blauer und beiger Farbe gestrichenen Wände nichts ändern. Abu Ghraib ist und bleibt für viele ein Fluch.
Den Gefängniswärtern, die in schicken Uniformen die Journalistengruppe empfangen, ist sichtlich unwohl. Ihre verzerrten Gesichter sprechen eine eigene Sprache. Doch auf Fragen dürfen sie nicht antworten. Stattdessen werden stolz Friseursalon, Bibliothek, Internetshop, Nähstube und Fitnessräume gezeigt. Auch ein Spielplatz wurde geschaffen, damit die Inhaftierten bei Familienbesuchen mit ihren Kindern spielen können. Abu Ghraib heisst jetzt Zentralgefängnis Bagdad. Seit Ende Februar ist es wieder geöffnet und soll vorerst 3000 Häftlinge aufnehmen.
Folter durch US-Armee
Vor fünf Jahren, im April 2004, gingen die ersten Folterfotos aus Abu Ghraib um die Welt. Ein Bild zeigte eine junge US-Soldatin, die mit der einen Hand einen nackten Häftling an einer Leine, in der anderen Hand eine Zigarette hält.
Von diesem Zeitpunkt an wurden westliche Ausländer entführt und bestialisch ermordet. Der US-Bürger Nick Berg, dem vor laufender Kamera im Mai 2004 der Kopf abgeschnitten wurde, stellte nur ein Beispiel des verheerenden Terrors dar.
Das Töten im Irak kannte seitdem keine Tabus mehr. Während vor der Veröffentlichung der Folterfotos die Anschläge zumeist militärischen Zielen gegolten hatten und denjenigen, die mit den Besatzungsmächten zusammenarbeiteten, richtete sich der Terror anschliessend gegen alle. Immer mehr irakische Zivilpersonen gerieten in den Strudel der Gewalt, wurden entführt, ausgeraubt, ermordet.
In den schlimmsten Jahren, 2006 und 2007, als durchschnittlich 18 Anschläge pro Tag allein in Bagdad verzeichnet wurden, wagten sich viele oft wochenlang nicht mehr auf die Strasse. Zögerlich wurde morgens die Haustür aufgemacht und nach links und rechts geschaut, ob wieder einmal Leichen auf dem Bürgersteig lagen. Inzwischen sind nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen einer halben Million und 700000 Zivilpersonen im Irak ums Leben gekommen.
Husseins Foltergefängnis
Abu Ghraib war schon zu Zeiten Saddam Husseins ein berüchtigtes Foltergefängnis. Der Bagdader Vorort, an der Ausfallstrasse in den Westen nach Jordanien, gab der Haftanstalt den Namen. Bis zu 50000 Gefangene sassen hier zuweilen ein, obwohl das Gefängnis nur 15000 Betten aufweist. Es war das grösste Gefängnis im Irak. Folter und die Vollstreckung von Todesurteilen waren alltäglich, Häftlinge sassen oft jahrelang ohne Begründung und ohne Gerichtsverfahren ein. Wer «Abu Ghraib» flüsterte, wenn er nach dem Verbleib von Familienangehörigen oder Freunden gefragt wurde, beschrieb damit das ganze Ausmass der Gewaltherrschaft Saddam Husseins.
Als die US-Armee im Irak einmarschierte, hofften viele Iraker, dass die Menschenrechte und die Würde des Einzelnen wieder Geltung erhalten würden. Bis die Fotos von gepeinigten und gedemütigten Gefangenen aus Abu Ghraib das Gegenteil belegten.
Die Bilder zeigten zudem, dass VertreterInnen einer westlichen, christlichen Regierung Muslime folterten – ein Umstand, der die Psyche der stolzen und gläubigen IrakerInnen zutiefst verletzte und nicht wenige in die Radikalität trieb.
Die Fotos waren im Frühjahr 2004 überall zu sehen. In Bagdad hingen sie in Übergrösse an Marktständen, an Häuserwänden im Zentrum und wurden in speziellen Alben und auf CDs verkauft. Ein Bildhauer formte Skulpturen nach ihrer Vorlage und initiierte eine Ausstellung in der bekannten Galerie Hiwar.
Über den Zusammenhang zwischen den Demütigungen von Abu Ghraib und der zunehmenden Unterstützung des bewaffneten Widerstands durch die Bevölkerung gibt es derzeit noch keine zuverlässige wissenschaftliche Analyse. In Alltagsgesprächen wird dieser Zusammenhang jedoch hergestellt, zumal die Verantwortlichen bis heute nur ungenügend zur Rechenschaft gezogen wurden, was die irakische Bevölkerung bitter beklagt. Nur ein einziger Offizier der US-Armee musste sich vor Gericht verantworten. Das Verfahren endete mit einer Rüge. Lediglich einer der Gefängniswärter, der US-Amerikaner Charles Graner, wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Im Herbst 2006 beschloss die irakische Regierung, Abu Ghraib zu schliessen. Aus dem Gefängnis sollte ein Museum werden, das die Gräueltaten des inzwischen exekutierten Diktators Saddam Hussein dokumentiert. Von Abriss war ebenfalls die Rede.
Neuer Name
Im Januar dieses Jahres verkündete die Regierung jedoch, dass Abu Ghraib wieder geöffnet werde, unter neuem Namen und renoviert mit US-Geldern. «Unsere Gefängnisse sind heillos überfüllt», begründete Ibrahim Busho, stellvertretender Justizminister, die Wendung. Bereits 35000 Häftlinge sässen in anderen Haftanstalten ein, bis zu 120 Personen müssten sich eine 50 Quadratmeter grosse Zelle teilen. Die Uno spricht in einem kürzlich veröffentlichten Bericht von unhaltbaren Zuständen.
Hinzu kommt, dass nach dem Sicherheitsabkommen, das zwischen Bagdad und Washington geschlossen wurde und das Anfang des Jahres in Kraft trat, alle Häftlinge in US-Gewahrsam an die irakischen Behörden übergeben werden müssen. Dabei handelt es sich um 15000 Gefangene, die noch keine gerichtlichen Verfahren erhielten.
Weiterhin Folter in der Haft
Jeden Monat werden nun 1500 von ihnen an die irakischen Behörden übergeben. Die Gefängnisse füllen sich schneller, als sie sich leeren. Sechs zusätzliche Haftanstalten sind zwar landesweit im Bau, bis zur Fertigstellung kann es aber noch eine Weile dauern. Der Justizminister stand unter Druck: Nun kann Abu Ghraib weiter Angst und Schrecken verbreiten, auch wenn es jetzt Zentralgefängnis Bagdad heisst. Folter in der Haft ist auch im neuen Irak systematisch, wie Uno, Amnesty International und Human Rights Watch herausgefunden haben.
Zunehmende Kriminalität
Jede Woche gibt es neue Verhaftungen. Während in den Monaten nach dem Einmarsch der US-Armee vor sechs Jahren zumeist Anhänger von Saddam Hussein und seiner Baath-Partei hinter Gitter kamen, ist die Herkunft der Häftlinge jetzt vielfältiger.
Als die Folterfotos in Abu Ghraib entstanden, gehörten
75 Prozent der Inhaftierten zur sunnitischen Bevölkerung. Razzien in den Dörfern und Städten des berüchtigten sunnitischen Dreiecks, das die Städte Falludja und Ramadi einschloss und als Zentrum des Widerstands galt, endeten oft damit, dass die gesamte männliche Bevölkerung eines Ortes von den US-Soldaten festgenommen wurde.
Mittlerweile stellen nicht mehr die unterschiedlichen Terrorgruppen die grösste Herausforderung dar, sondern die rasant zunehmende Kriminalität. Die Frage, die sich derzeit im Irak jeder stellt, lautet daher, ob die eigenen Sicherheitskräfte nach dem Abzug der US-Armee 2011 die Situation beherrschen können. Innerhalb von sechs Jahren haben sich mafiöse Strukturen entwickelt, wie sie aus lateinamerikanischen Ländern bekannt sind: Raubüberfälle, Diebstahl und Entführungen mit Lösegeldforderung gehören zum traurigen Alltag.
Die Haftanstalten haben eine weitere Klientel zu verzeichnen. Mit der verbesserten Sicherheitslage im Land kommen auch immer mehr nichtterroristische Straftaten ans Tageslicht. Transparency International nennt in ihrem Korruptionsbericht den Irak an vorderster Stelle. Seit der US-Invasion habe sich ein Korruptionsgeflecht im Zweistromland entwickelt, das bis in alle Zweige der irakischen Gesellschaft reiche, schreibt die Organisation.
Auch ehemalige Minister der beiden Übergangsregierungen sind davon betroffen. Sollte der jetzige Premierminister, Nuri al-Maliki, ernst machen mit seiner Ankündigung, die Korruption stärker zu bekämpfen, werden die Kapazitäten Abu Ghraibs wohl bald ausgeschöpft sein. Der Irak jedenfalls wird so schnell nicht zur Ruhe kommen und noch lange mit dem Erbe Saddam Husseins und der Hinterlassenschaft der US-Besatzung zu kämpfen haben.
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» vom Mai 2009
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion