Sami al-Haj
© Gwladys Fouché
AMNESTY: Was machen Sie heute?
Sami al-Haj: Ich leite eine neue Abteilung bei Al Jazeera, die sich der Berichterstattung über Menschenrechte und zivile Freiheiten widmet. Zu diesen Themen bereiten wir Berichte für den Sender vor. Viele ZuschauerInnen in den Ländern des Mittleren Ostens wissen gar nicht, welche Rechte sie haben. Wir wollen sie besser darüber informieren. Diese Abteilung ist für mich persönlich ganz wichtig. Als ich Guantánamo verliess, haben die anderen Gefangenen zu mir gesagt: «Vergiss uns nicht.» Ich glaube, mit dieser neuen Abteilung kann ich ihnen helfen.
Ich bin ausserdem daran, eine Hilfsorganisation für alle Guantánamo-Gefangenen aufzubauen, das «Guantánamo Justice Centre», dessen internationaler Sitz in Genf sein wird. [Anmerkung: Das Zentrum wurde im Juli eröffnet.] Ziel ist es, die Gefangenen nach ihrer Freilassung zu unterstützen, da sie alle mit enormen Problemen konfrontiert sind. Unsere Organisation will zudem im Namen aller Gefangenen gegen die Bush-Administration prozessieren. Wir wollen nicht, dass andere Menschen das Gleiche erleiden müssen wie wir.
Wie weit sind Sie mit Ihrer Klage gegen die Bush-Administration?
Wir sammeln Informationen von allen Leuten, z. B. medizinisches Beweismaterial. Das braucht Zeit. Wir wollen nicht einen Fall nach dem anderen, sondern alle Fälle gemeinsam vor Gericht bringen. Auf Anraten der Rechtsanwälte werden wir den Prozess wohl in Europa führen. Die Gerichte haben zwar nicht die Kompetenz, das Erscheinen von US-Beamten zu erzwingen, aber wenigstens werden diese nicht mehr in europäische Länder einreisen können, ohne von den Behörden festgehalten und vor Gericht gebracht zu werden.
Wie ist es Ihnen persönlich seit Ihrer Freilassung ergangen?
Manchmal wache ich auf und habe das Gefühl, ich sei immer noch in Guantánamo. Ich habe dieses Gefühl aber auch, wenn ich Geräusche höre, Licht sehe, wenn Hunde bellen oder wenn ich laute Rufe höre. Dann fühle ich mich nicht gut. Mit Hilfe des Psychologen, der mich betreut, merke ich jedoch, dass es langsam besser wird. Ich hoffe, dass ich bald wieder ein normales Leben führen kann.
Mein neunjähriger Sohn Mohammed steht mir nicht so nahe, weil er ohne mich aufgewachsen ist. Wir haben zwar ein enges Verhältnis, aber nicht so eng. Er hat das Gefühl, ich hätte ihm seine Mutter gestohlen. Meine Frau Asma leidet immer noch unter Geschwüren. [Dieses Leiden begann während seiner Inhaftierung.] Sie hat Angst vor der Zukunft und fürchtet sich jedes Mal, wenn ich ins Ausland reise, weil ich ja nicht zurückkommen könnte.
Aber ich bin in einer besseren Lage als andere Gefangene. Ich habe einen Job, mein Arbeitgeber hat die Arztkosten bezahlt und mir Zeit für meine Familie gegeben. Anderen geht es viel schlechter. Viele haben keine Arbeit und werden nicht gerne in ihren Moscheen gesehen, weil die Leute fürchten, dass die Polizei sie beobachtet. Einige können nicht heiraten oder finden keine Männer für ihre Töchter. Für manche ist der Weg zurück ins normale Leben so schwierig, dass sie sagen, sie wollten wieder nach Guantánamo.
Was sollten die USA für die Entlassenen tun?
Die USA sollten alle Gefangenen, die in ihrem Land leben möchten, aufnehmen. Sie sind die Urheber dieser Situation, deshalb sollten sie auch die Verantwortung übernehmen. Diejenigen, die nicht in den USA leben wollen, müssten die Erlaubnis erhalten, in ihre Heimat zurückzukehren. Wenn das nicht möglich ist, sollten die USA alles unternehmen, damit sie in ein Drittland reisen können, das bereit ist, sie aufzunehmen. Aber die Hilfe endet nicht mit der Entlassung aus Guantánamo. Die USA sollten die Betroffenen auch beim Hausbau oder beim Aufbau eines Geschäftes unterstützen.
Was denken Sie über die aktuelle Guantánamo-Berichterstattung? Vor Kurzem wurde in den Medien berichtet, dass einige der Gefangenen auf «Paradiesinseln» wie Palau oder den Bermudas aufgenommen werden sollen.
Das ist sehr irreführend. Auch wenn man jemanden in die Hölle steckt, wird er sagen, dort sei es grossartig, einfach weil er aus Guantánamo herausgekommen ist. Die Medien stellen die falschen Fragen. Wichtig wäre zu wissen, wie diese Männer wieder mit ihren Familien vereint werden, wovon sie nach ihrer Entlassung leben werden und wie ihre Sicherheit garantiert werden kann.
Die Medien vertrauen zu sehr auf Präsident Obama und dessen Versprechen. Obama sagte, er werde die Leute vor ein Zivilgericht stellen. Jetzt kommt er wieder mit den Militärgerichten. Er sagte, er würde Guantánamo sofort schliessen, wenn er an die Macht käme. Das hat er nicht getan. Er sagte, er würde die Leute, die gefoltert haben, vor Gericht bringen. Das ist nicht geschehen. Ich befürchte auch, dass die geheimen Gefängnisse in Vergessenheit geraten, wenn Guantánamo endlich geschlossen wird. Guantánamo wird es dann vielleicht nicht mehr geben, aber Bagram [zur US-Militärbasis in Kabul gehört ein Internierungslager, in dem auch Sami al-Haj mehrere Tage festgehalten wurde] wird weiter ausgebaut.
Kennen Sie einzelne Fälle?
Im April rief mich Muhammed Hamid al-Qarani an. [al-Qarani stammt aus dem Tschad und wurde 2002 im Alter von 14 Jahren nach Guantánamo gebracht. Ein US-Bundesgericht entschied im Januar, dass der junge Mann freigelassen werden muss, da keine Beweise gegen ihn vorliegen.] al-Qarani war in einem Teil des Gefängnisses untergebracht, wo die Insassen das Recht haben, ihre Verwandten anzurufen. Er gab an, dass ich sein Onkel sei, und erzählte mir am Telefon, dass er von den Gefängniswärtern geschlagen werde. Ich brachte seine Aussagen auf Al Jazeera. Später erfuhr ich von einem Gefangenen, der in der Zelle neben al-Qarani untergebracht war und inzwischen freigelassen wurde, wie die Gefängniswärter reagierten, als sie erfuhren, was geschehen war. Sie schlugen ihn, steckten ihn in Einzelhaft, fesselten seine Beine und gaben ihm halbgaren, unverdaulichen Reis zu essen. [Al-Qarani wurde im Juni aus Guantánamo entlassen und kehrte in den Tschad zurück. Es gibt kaum Informationen darüber, wo er sich jetzt aufhält und wie es ihm geht.]
Wie würden Sie Guantánamo beschreiben?
[Er spricht langsamer und sein Blick schweift in die Ferne.] Das Leben in Guantánamo ... Wir kamen uns vor, als wären wir keine Menschen. Die Tiere wurden von den Gefängniswärtern besser behandelt als wir.
Hat Amnesty International während Ihrer Inhaftierung eine Rolle gespielt?
Ich habe mehr als 20'000 Briefe von Menschen bekommen, welche die Anliegen von Amnesty International unterstützen. Diese Briefe waren extrem wichtig für mich. Sie gaben mir Hoffnung. Sie erinnerten mich daran, dass ich nicht allein war, dass da draussen Menschen an mich dachten.
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von September 2009
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion