Es sind schreckliche Zahlen, die der Internetblog «Fortress Europe» zusammengestellt hat: Die Auswertung von Presseberichten seit dem Jahr 1988 hat ergeben, dass bis heute 10861 Personen im Mittelmeer und im Atlantischen Ozean bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, starben. Und die Dunkelziffer ist hoch. Trotzdem nehmen jedes Jahr Tausende von Personen den gefährlichen Weg in kleinen und häufig seeuntauglichen Booten auf sich – in der Hoffnung auf Schutz oder ein besseres Leben.
Europa empfängt sie jedoch nicht mit offenen Armen. Aber während zwischen den EU-Mitgliedstaaten – und seit ihrem Beitritt zu Schengen/Dublin auch zwischen der Schweiz und der EU – die Grenzkontrollen abgeschafft werden und der Grundsatz der Freizügigkeit für BürgerInnen Europas gilt, wird der Raum nach aussen hin abgeschottet. Zuwanderung wird ausschliesslich unter dem Aspekt der Bekämpfung illegaler Migration und Einwanderung betrachtet und als Sicherheitsproblem behandelt. Entsprechend liegt der Schwerpunkt der EU darin, die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitstaaten auszubauen, die Rückkehr- und Rückübernahmepolitik zu intensivieren und die Aussengrenzen durch das integrierte Grenzschutzsystem zu verstärken.
Gemeinsame Agentur Frontex
Im Zentrum dieses Grenzschutzsystems steht die im Mai 2005 eingerichtete Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen, kurz Frontex (von frz. frontières extérieures). Es handelt sich um eine Gemeinschaftsagentur der EU mit eigener Rechtspersönlichkeit und Sitz in Warschau. Hauptaufgabe von Frontex ist der Schutz der Aussengrenzen durch die Koordination der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und ihrer konkreten Unterstützung.
Frontex ist somit keine eigenständige Grenzschutzpolizei, sondern eine Agentur zur Harmonisierung und fortschreitenden Weiterentwicklung des europäisierten Grenzschutzes. Sie koordiniert die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, indem sie einerseits eine Datenbank für technische Ausrüstungsgegenstände (Schiffe, Hubschrauber, mobile Radarstationen, Nachtsichtgeräte etc.) und verfügbare Grenzschutzspezialisten der Mitgliedstaaten führt. Andererseits arbeitet sie auf der Grundlage einer nachrichtendienstlich ausgerichteten Risikoanalyse gemeinsame Operationen aus und unterstützt diese. Die konkrete Durchführung der Operationen verbleibt aber in den Händen der Mitgliedstaaten.
Grosse Operationen
Aktionsschwerpunkt der koordinierten Einsätze war in den vergangenen Jahren der Mittelmeerraum. Hier führte Frontex in den Jahren 2005 bis 2008 insgesamt sechs Einsätze durch. Bekannt wurden vor allem die drei grossen Operationen Hera vor den Kanarischen Inseln und der Küste Westafrikas, Nautilus zwischen Libyen und Tunesien sowie Italien und Malta und Poseidon im östlichen Mittelmeer, insbesondere vor der Küste Griechenlands. Ziel der Frontex-Einsätze ist der konsequente Stopp illegaler Einwanderung durch Verhinderung der Einreise.
Aus den Tätigkeitsberichten von Frontex ergibt sich, wie diese Abwehr aussieht: Der Jahresbericht 2006 beschreibt die Operation Hera II und legt dar, dass im Einsatzzeitraum von August bis Dezember 2006 insgesamt «3887 illegale Einwanderer in 57 Cayucos (kleine Fischerboote) in der Nähe der afrikanischen Küste abgefangen und umgelenkt wurden». Aus der offiziellen Statistik des Einsatzes Hera 2008 geht hervor, dass Frontex in diesem Jahr 5909 Menschen auf hoher See oder vor den Küsten Afrikas abgedrängt hat. Frontex führt dazu aus, dass die abgedrängten Personen entweder überzeugt worden seien, umzukehren, oder sie seien zum nächsten Hafen (in Senegal oder Mauretanien) zurückeskortiert worden.
Vor die Küsten Afrikas verlagert
Für Hera wurden Vereinbarungen mit Mauretanien und Senegal getroffen. Seitdem dürfen Frontex-Schiffe unter Beteiligung senegalesischer Soldaten direkt vor den Küsten patrouillieren, um Flüchtlingsboote zur Umkehr zu bewegen. Dadurch wird der Grenzschutz aus dem europäischen Raum direkt vor die Küsten Afrikas verlagert.
Mit welchen Methoden Frontex bei der Abwehr von Flüchtlingsbooten vorgeht und wie die Überzeugungsarbeit bei solchen Einsätzen aussehen kann, schilderte eindrücklich der Haupteinsatzleiter der italienischen Militärpolizei in Rom, Saverio Manozzi, in einem SWR-Radiobeitrag im Juni 2008: «Wir wurden bei offiziellen Treffen mit Einsatzplänen und schriftlichen Befehlen konfrontiert, nach denen die Abwehr der illegalen Einwanderer darin besteht, an Bord der Schiffe zu gehen und Lebensmittel und Treibstoff von Bord zu nehmen, sodass die Immigranten dann entweder unter diesen Bedingungen weiterfahren können oder aber lieber umkehren.»
Asylrecht verletzt
Mitten auf dem Meer aufgegriffene Flüchtlinge haben – ebenso wie jene, die es bis in Küstennähe schaffen – nach geltendem Völkerrecht das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Sie dürfen auch nicht abgeschoben werden, wenn ihnen möglicherweise Verfolgung oder Misshandlung droht. Ein faires Asylverfahren, das rechtsstaatlichen Anforderungen gerecht wird, kann allerdings nicht ad hoc auf den Einsatzschiffen erfolgen. Die bei den Einsätzen aufgegriffenen Personen müssen daher auf das europäische Festland gebracht werden. Nur hier ist die Durchführung eines Asylverfahrens möglich, das völkerrechtlichen Standards gerecht wird.
Es liegt auf der Hand, dass bei dem pauschalen Ansatz der Frontex-Operationen, Menschen zurückzudrängen, nicht geprüft werden kann, ob sich darunter Flüchtlinge befinden, die Anspruch auf Schutz in der EU haben. Fakt ist jedoch, dass sich unter den Bootsflüchtlingen regelmässig Menschen befinden, die vor Verfolgung in ihrem Heimatland fliehen. Nach Angaben des UNHCR beantragen etwa 70 Prozent der Personen, die Malta über das Mittelmeer erreichen, dort Asyl und knapp die Hälfte wird als schutzbedürftig anerkannt. Dies wird durch den Frontex-Tätigkeitsbericht 2007 bestätigt: Dieser gibt an, dass die auf Malta ankommenden Einwanderer hauptsächlich aus Eritrea, Somalia, Äthiopien und Nigeria stammten – alles Länder, in denen Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind.
Um eine effektive Umsetzung der menschenrechtlichen Standards auch im Einsatz zu garantieren, sollte daher ein verbindlicher Verhaltenskodex ausgearbeitet und den Grenzschutzbeamten in Schulungen vermittelt werden. Zwingend erforderlich ist zudem ein dauerhaftes und unabhängiges System, das die Einhaltung der Menschenrechte im Rahmen dieser Missionen überwacht und eine effektive parlamentarische Kontrolle ermöglicht. Zudem muss sichergestellt werden, dass in Fällen, in denen Menschen bei diesen Einsätzen zu Tode kommen, strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet werden.
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von November 2009
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion