Für Millionen AmerikanerInnen war Weihnachten 2009 ein magischer Moment. Präsident Barack Obama nannte ihn sogar «historisch». Am 24. Dezember hatte sich der Senat mit 60 Stimmen für die Gesundheitsreform ausgesprochen. Dagegen gestimmt hatten 39 republikanische Abgeordnete. Von dieser Reform haben schon viele amerikanische Präsidenten geträumt. Präsident Obama schien drauf und dran, sie in die Realität umzusetzen. Doch der Verlust eines demokratischen Sitzes im Senat könnte das ganze Paket wieder infrage stellen.
Die Reform ist längst fällig und dringend notwendig. Neusten Zahlen zufolge sind 46 Millionen AmerikanerInnen ohne Krankenversicherung. Mit der Reform hätten 30 Millionen sofort einen Versicherungsschutz, die restlichen frühestens 2013.
Nicht nur die Krankenversicherung, sondern das ganze amerikanische Gesundheitswesen steckt in einer Krise. Denn das teuerste Gesundheitssystem der Welt ist auch eines der unfairsten. Ein Beispiel ist die Rate der Müttersterblichkeit. Unter den Industrienationen liegen die USA diesbezüglich auf Platz 1. Gemäss dem Zentrum für Krankheitskontrolle und Vorbeugung (Center for Disease Control and Prevention, CDC), der wichtigsten Regierungsbehörde des öffentlichen Gesundheitsdienstes, sterben täglich zwei bis drei Frauen wegen Komplikationen während der Schwangerschaft. Betroffen sind vor allem Afro-Amerikanerinnen, deren Sterberisiko dreimal höher ist als das der weissen Amerikanerinnen. Die Behörde kommt zum Schluss, dass mindestens die Hälfte der Todesfälle verhindert werden könnte, wenn die betroffenen Frauen einen besseren Zugang zu medizinischer Versorgung hätten. Weitere Risikofaktoren stellen Armut, Diskriminierung und Behandlungskosten dar.
Erhöhtes Armutsrisiko
In dieser Zeit der Krise und Rezession sehen sich immer mehr AmerikanerInnen mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert. Ganz neu ist diese Situation allerdings nicht. Gemäss dem US-amerikanischen Volkszählungsbüro ist die Zahl der Armutsbetroffenen unter der Regierung von George W. Bush um 6 Millionen auf heute 40 Millionen Menschen gestiegen, das entspricht 15 Prozent der amerikanischen Bevölkerung. Angehörige von Minoritäten und MigrantInnen sind deutlich stärker betroffen. 24,5 Prozent der Afro-AmerikanerInnen und 21,5 Prozent der Hispano-AmerikanerInnen leben in Armut, von den weissen AmerikanerInnen sind es im Vergleich nur 8,2 Prozent. Zudem ist das Sozialhilfe-Budget unter der Bush-Regierung drastisch gekürzt worden.
Dramatisch ist auch, dass mittellose BürgerInnen zunehmend kriminalisiert werden, wie das National Law Center on Homelessness and Poverty (NLCHP) in einer neuen Studie festhält. Gemäss dieser Vereinigung von JuristInnen hat die Zahl der Verordnungen in Bezug auf die öffentliche Armut zugenommen. Ebenso die Bussen und Verhaftungen, mit denen bereits kleinste Vergehen geahndet werden. Dazu gehört das Verbot, Abfälle auf öffentlichen Boden zu werfen oder in der Öffentlichkeit eine Flasche Alkohol offen in der Hand zu halten. Die Hitparade der strengsten Städte wird von Honolulu, Los Angeles und San Francisco angeführt.
Hunger und Obdachlosigkeit
«Auf das, was ich zu sehen bekommen habe, war ich nicht gefasst. Die Situation ist schlimmer, als ich sie mir vorgestellt habe», sagt Raquel Rolnik, Uno-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen, nach ihrer Rückkehr aus den Vereinigten Staaten. Ein Jahr lang hatte ihr George W. Bush die Einreise verweigert. Nach der Wahl von Barack Obama sieht die Lage anders aus. «Ich glaube, dass die Ärmsten der Armen, also die einkommensschwächste Bevölkerungsschicht, am meisten unter der heutigen Situation leidet. Die Last ist ungleich verteilt und liegt vor allem auf den Schultern der Afro-Amerikaner, der Latinos, der Migranten und der indigenen Bevölkerung.»
Letztes Jahr waren etwa drei Millionen AmerikanerInnen obdachlos. Immer stärker sind auch Familien betroffen, vor allem alleinerziehende Eltern mit ihren Kindern. Inzwischen scheinen die ersten Massnahmen, die Barack Obama in die Wege geleitet hat, zu greifen. Aber nicht nur die Obdachlosigkeit ist ein Problem. Immer mehr Menschen macht auch der Hunger zu schaffen. Gemäss einer Studie des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums haben 17 Millionen amerikanische Haushalte ernsthafte Probleme, jeden Tag genug Essen auf den Tisch zu bekommen. Im Jahr 2007 waren es noch vier Millionen Menschen. Diese über vierfache Zunahme ist alarmierend und ein Ende vorerst nicht absehbar, da die Arbeitslosenzahlen weiter steigen. Die Obama-Administration hat sich zum Ziel gesetzt, den Hunger zu reduzieren. Bei den Kindern sollen die Ernährungsprobleme bis 2015 sogar ganz behoben sein. Ob sich dieses Versprechen einhalten lässt, ist allerdings fraglich.
Hurrikan Katrina und kein Ende
Auch vier Jahre nachdem der Hurrikan Katrina in den US-Staaten Mississippi und Louisiana gewütet hat, werden noch immer zahlreiche Menschen in den betroffenen Gebieten umgesiedelt. Tausende provisorischer Unterkünfte wurden abgerissen, obwohl nicht sicher war, ob ihre BewohnerInnen in den neuen Wohnsiedlungen eine Bleibe finden würden. Ausserdem gibt es wenig erschwinglichen Wohnraum. Barack Obama vermochte anlässlich einer Stippvisite im vergangenen Oktober die betroffenen Menschen kaum zu beruhigen. Von den 7,8 Milliarden Dollar, welche die nationale Koordinationsstelle für Katastrophenhilfe (Federal Emergency Management Agency, FEMA) an die lokalen Behörden verteilen sollte, warten noch mehr als 3,2 Milliarden Dollar auf ihren Bestimmungszweck. Diese Gelder sind dringend nötig, um angefangene Infrastrukturprojekte wie Polizeiposten, Schulen, Spitäler und Bibliotheken fertigzustellen. Solange es jedoch keine passenden Wohnmöglichkeiten gibt und die notwendige Infrastruktur fehlt, können viele BewohnerInnen nicht in ihre angestammten Orte zurückkehren.
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von Februar 2010
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion