Der Titel des Romans «Teheran Revolutionsstrasse» könnte aktueller nicht sein: Der Sturm des Protests weht auch dieser Tage durch die vom Verkehr verstopften Teheraner Strassen. Die Ereignisse zeigen, dass ein Teil der iranischen Gesellschaft nicht müde wird, trotz verschärfter Drohungen und wiederholter Gewaltakte durch das Regime gegen das zweifelhafte Ergebnis der Präsidentschaftswahlen vom vergangenen Juni zu protestieren.
Die aktuellen Kundgebungen unterscheiden sich nach Ansicht Amir Hassan Cheheltans von früheren dadurch, dass sie von einer urbanen, mittelständischen und gebildeten Gesellschaftsschicht getragen werden. Diese Menschen sind nicht mehr ohne weiteres gewillt, sich dem Druck der Behörden zu unterwerfen. «Es ist die säkularisierte iranische Jugend, die heute für den Westen sichtbar auf die Strasse geht», sagt Cheheltan. Doch Prognosen über die Zukunft der Protestbewegung wollte er in Basel keine abgeben: «In der iranischen Gesellschaft können immer wieder unvorhergesehene Ereignisse eintreten.»
Dass sich der Volkszorn nicht über Nacht entladen hat, sondern das Ergebnis von jahrelanger Unterdrückung und Machtmissbrauch ist, veranschaulicht Cheheltans Buch eindrücklich. Die Handlung spielt zu Beginn der Neunzigerjahre, etwa drei Jahre nach dem Ende des ersten Golfkrieges. Schahrsad, eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen, steht kurz vor ihrer Heirat mit Mustafa. Um den gesellschaftlichen Vorschriften zu genügen und den Schein zu wahren, lässt sie sich in einer Klinik ihr zerrissenes Jungfernhäutchen operativ wiederherstellen. Sie liegt unter dem Messer von Dr. Fattah, der ein skrupelloser Chirurg mit zweifelhafter Karriere ist und sich an seinen Patientinnen schadlos hält. Doch diesmal kommt es anders. Der Chirurg verliebt sich in die junge Schahrsad. Unvermittelt sieht sich diese von zwei Verehrern gleichzeitig begehrt. Fortan verfügen andere über ihr Schicksal. Als Frau ohne eigene Rechte nimmt Schahrsad ihr zunehmend tragisches Los stoisch hin.
Gesellschaftlicher Zerfall
Auf die gegenwärtige Situation der Frauen im Iran angesprochen, sagt Cheheltan: «Frauen wie Schahrsad haben in meiner Heimat nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie steigen auf das Motorrad eines Verehrers und tragen die unabsehbaren Folgen, oder sie bleiben zu Hause.» Mit der Figur von Schahrsad zeichnet der Autor die Vertreterin einer sozialen Gruppe, die sich aufgrund blutiger Erfahrungen gänzlich aus der Gesellschaft zurückgezogen und sich in ein passives Leben geflüchtet hat.
Ziel seines Buches sei es, am Beispiel der untersten sozialen Schicht zu zeigen, wie die iranische Gesellschaft von Dekadenz durchdrungen sei. Der gesellschaftliche Zerfall sei im Iran allgegenwärtig und ziehe sich durch alle gesellschaftlichen Schichten. Er gehe Hand in Hand mit einer stark gestiegenen Gewaltbereitschaft. Cheheltan erzählt von eigenen Kindheitserlebnissen, zum Beispiel, dass er auf dem Schulweg jeweils mit ansehen musste, wie auf offener Strasse Hühnern der Kopf abgehackt worden sei.
Mit den skizzierten Seelenzuständen seiner ProtagonistInnen kritisiert Amir Hassan Cheheltan die gesellschaftlichen Verhältnisse in seiner Heimat umfassend. Er sprach in Basel über massive wirtschaftliche und soziale Zwänge, die das Individuum gewaltig unter Druck setzten: «Moderne iranische Schriftsteller haben es sich angewöhnt, das Regime zu kritisieren. Jetzt geht es darum, die Gesellschaft an sich kritisch zu hinterfragen.» Der Zwang zur chirurgischen Wiederherstellung der Jungfräulichkeit sei ein Symbol für Heuchelei in der Gesellschaft, dem Widerspruch von Sitte und Tradition auf der einen und den realen sozialen Gegebenheiten auf der anderen Seite. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass Cheheltans Roman wegen bestimmter erotischer Szenen derzeit im Iran verboten ist. Das Buch ist bisher nur auf Deutsch erschienen.
Die Ausdrucksweise von Cheheltans Figuren ist nüchtern. Gewaltakte werden knapp und emotionslos dargestellt. Trotzdem bleibt der Leserschaft der Zugang zum Innenleben der ProtagonistInnen nicht verborgen, etwa dann, wenn der Autor die Wirkung von Schahrsads Augen auf den Chirurgen Fattah beschreibt: «Wieder diese Augen voll Scham und Unschuld. Sie lösen in ihm Unruhe und Wärme zugleich aus. Eine bittersüsse Freude kreiste durch seine Adern. Er griff sich an die Brust und kratzte sich, kratzte abermals, und es gefiel ihm. Als sei er berauscht.»
«Teheran Revolutionsstrasse» legt für die westliche Leserschaft verborgene Winkel der iranischen Gesellschaft frei. «Es braucht viel Fingerspitzengefühl, um den eigenen Zorn so weit zu zügeln, dass er noch als Literatur wahrgenommen werden kann», sagt Amir Hassan Cheheltan über sein eindrückliches Buch.
Amir Hassan Cheheltan: Teheran Revolutionsstrasse. Übersetzt von Susanne Baghestani. P. Kirchheim Verlag, München 2009. Ca. Fr. 40.–
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von Februar 2010
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion