Amnesty: Warum treten Sie sowohl gegen die Ausschaffungsinitiative als auch gegen den Gegenvorschlag ein?
Marc Spescha: Die Wegweisung und dann auch tatsächliche Ausschaffung ausländischer Straffälliger ist bereits geltendes Recht. Das Anfang 2008 in Kraft getretene Ausländergesetz erlaubt, eine Aufenthaltsbewilligung oder sogar eine Niederlassungsbewilligung zu widerrufen, wenn jemand zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Das Bundesgericht spricht schon bei Strafen ab einem Jahr von einer längerfristigen Strafe. Es gibt also bereits ein hinreichendes gesetzliches Instrumentarium. Aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit beachtet es aber den Verhältnismässigkeitsgrundsatz sowie staatsvertragliche Verpflichtungen und das Völkerrecht. Ein Verfassungsartikel zu diesem Thema ist dagegen völlig überflüssig. Es ist überdies gar nicht verfassungswürdig. Das gilt auch mit Bezug auf den Gegenvorschlag, der weitgehend die heutige Praxis wiedergibt.
Wenn sich sowieso nicht viel verändern würde: Warum soll man sich dann dagegen engagieren?
Der Verfassungsartikel gemäss Ausschaffungsinitiative müsste weitgehend toter Buchstabe bleiben, da er so, wie sich das die Initianten vorstellen, grund- und menschenrechtskonform gar nicht umsetzbar ist. Der Bundesrat hat in der Botschaft gezeigt, dass die Initiative gleich gegen mehrere Grund- und Menschenrechte verstösst. Gemäss Absicht der Initiative würden keine Einzelfälle mehr geprüft und ein Ausschaffungsautomatismus etabliert, der allein von der Strafhöhe abhängt. Auch für die Prüfung der Verhältnismässigkeit bliebe kein Raum mehr. Und wenn man nicht mit dem Bundesrat gegen die Intention der Initianten Auslegungsakrobatik betreibt, würde auch das Non-Refoulement-Prinzip missachtet. Es besagt, dass niemand in ein Land zurückgeschickt werden darf, in dem ihm Folter oder eine andere unmenschliche Behandlung droht. Die Stimmbürger und Stimmbürgerinnen werden mit der Initiative irregeführt, indem sie über das geltende Recht wie auch hinsichtlich der Umsetzbarkeit der Initiative getäuscht werden. Die Initiative ist rechtsstaatlich ein Unsinn, politisch abwegig und als populistische Inszenierung ein Ärgernis. Sie täuscht einen Handlungsbedarf vor, der gar nicht besteht.
Was halten Sie von der Integrationsklausel im Gegenvorschlag?
Auch diese ist weitgehend überflüssig, denn sie besagt wenig mehr, als was jetzt schon im Ausländergesetz steht. Positiv lässt sich vermerken, dass die staatlichen Integrationsanstrengungen verbindlicher verankert wären. Aber die Klausel ist weitgehend taktisch motiviert, um der Linken den Gegenvorschlag schmackhaft zu machen, und rettet ihn auch nicht. Er ist der Initiative zwar klar vorzuziehen, fokussiert aber ebenfalls zu sehr auf die Strafhöhe als massgebliches Kriterium statt auf die Frage der Rückfallwahrscheinlichkeit, was im Falle von EU-BürgerInnen entscheidend ist. So differenziert beispielsweise auch der Gegenvorschlag nicht zwischen bedingten und unbedingten Strafen.
Welche Auswirkungen erwarten Sie vom Abstimmungskampf der kommenden Monate?
Es werden falsche Signale ausgesendet. Die Ausländerdebatte wird einmal mehr und diesmal erst recht und ausschliesslich zur Debatte über «Ausländerkriminalität». Damit verfestigt sich ein Diskurs, der auf Ausgrenzung ausgerichtet ist und stereotype Vorurteile alimentiert. Wenn die Volksinitiative angenommen wird, würde eine Volksmehrheit dieser Optik gar noch den Segen geben. Für unsere bis anhin rechtsstaatlich fundierte Demokratie wäre das alarmierend und der letzte Beweis dafür, dass das Initiativrecht rechtsstaatlich wirksam zu bändigen ist. Das interkulturelle Klima wird vergiftet, wenn während Monaten das stereotype Bild vom Ausländer als Störenfried gezeichnet wird. Ohne dieses Bild aber liessen sich die Initiative und eine monatelange Debatte darüber gar nicht rechtfertigen. Beteuerungen wie jene, dass «man ja nicht alle Ausländer meine», sind eine billige Ausflucht. Sie ändern nichts daran, dass der Ausländer pauschal als Straftäter in den Fokus rückt.
Die Initianten warten mit beeindruckenden Statistiken zur «Ausländerkriminalität» auf. Warum sitzen denn in den Gefängnissen so viele Ausländer?
Die Initianten differenzieren erstens nicht zwischen hier wohnhaften Ausländern und den sogenannten Kriminaltouristen, die als Strafffällige ja ebenfalls ins Gefängnis kommen, aber kein Aufenthaltsrecht in der Schweiz haben. Wenn man die «Kriminaltouristen» ausklammert, existiert zwar immer noch ein statistischer Überhang von straffälligen Ausländern im Vergleich zu den Schweizern, aber er ist nicht mehr so ausgeprägt. In der für die Kriminalität entscheidenden Gruppe der jungen Männer zwischen 15 und 30 Jahren ist der Ausländeranteil im Vergleich zum durchschnittlichen Ausländeranteil viel höher. Berücksichtigt man das, zeigt sich, dass sich punkto Straffälligkeit kaum mehr signifikante Unterschiede ergeben beziehungsweise diese vorwiegend mit der sozialen Schichtung, nicht aber mit der Nationalität erklärbar sind. Interessant ist auch die umgekehrte Perspektive: Fragt man nämlich nach der Nationalität der Opfer, zeigt sich, dass solche ausländischer Staatsangehörigkeit statistisch überrepräsentiert sind. Gemäss einer deutschen Studie ist es viel unwahrscheinlicher, dass es zu einer Verurteilung kommt, wenn der Täter ein Deutscher ist und das Opfer ein Ausländer, als umgekehrt. Das hat mit Kriminalisierungsmechanismen und dem Anzeigeverhalten zu tun.
Marc Spescha (geb. 1957) studierte Jura und arbeitete danach in der Erwachsenenbildung für fremdsprachige Erwerbslose. Seit 1990 ist er in Zürich als Rechtsanwalt tätig. Marc Spescha ist Lehrbeauftragter an der Universität Freiburg und hat zahlreiche Publikationen insbesondere auf dem Gebiet des Migrationsrechts verfasst. Aktuellste soeben erschienene Publikation: Spescha/Kerland/Bolzli, Handbuch zum Migrationsrecht, Zürich 2010.
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von August 2010
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion