Eine Aufstandsbewegung katapultierte 1994 den süd-lichen Bundesstaat Chiapas ins Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit. In Mexiko war gerade das Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada in Kraft getreten, womit das Land nach der Darstellung der herrschenden Elite endgültig in der ersten Welt angekommen war. Die Aufständischen, die sich nach dem Revolutionshelden Emiliano Zapata benannten und indigen-bäuerliche Anliegen vertraten, zeigten ihr eigenes Bild von Mexiko, in dem die Bevölkerung unter Armut, sozialer Ungerechtigkeit und mangelndem Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem litt. 1996 kam es zu einem Abkommen mit der Regierung, in dem viele Forderungen der Zapatisten aufgenommen wurden, etwa jene nach mehr Autonomie und Selbstbestimmung. Das Abkommen wurde aber nie umgesetzt. Das Interesse der Medien nahm stetig ab, doch der Konflikt blieb und besteht bis heute.
Geblieben sind auch viele Nichtregierungsorganisationen, die sich für den Schutz der Zivilbevölkerung einsetzen. Eine davon ist Peace Watch Switzerland (PWS), welche in der Schweiz MenschenrechtsbeobachterInnen ausbildet, die unter anderem nach Chiapas geschickt werden. Vor Ort arbeitet PWS mit dem lokalen Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (FRAYBA) zusammen, das seinen Sitz in der Stadt San Cristóbal de las Casas hat. Von dort werden international zusammengesetzte Teams für zwei Wochen in gefährdete Gemeinschaften geschickt. Gemäss dem FRAYBA ist es ihre Aufgabe, durch ihre Präsenz «Menschenrechtsverletzungen zu verhindern und, wenn es doch dazu kommen sollte, diese zu dokumentieren und sofort weiterzuleiten».
Nachbarn als Täter
Ich arbeitete im Oktober und November 2010 als Menschenrechtsbeobachter für PWS. In Chiapas angekommen, wurde ich vom FRAYBA gemeinsam mit drei KollegInnen in ein zapatistisch kontrolliertes Gebiet geschickt. Die Situation war angespannt und unübersichtlich. Ein Mann erzählte uns, er sei von der Polizei beschuldigt worden, für Überfälle auf Autos verantwortlich zu sein. «Sie nahmen mich fest, schossen mir ins Knie und folterten mich. Dabei habe ich nichts getan!» Ein weiteres Gemeindemitglied sprach von massiven Bedrohungen gegen ihn und seine Familie – als Täter nannte er einige seiner eigenen Nachbarn. «Sie kamen gegen Abend. Sie drohten, meinen Sohn mit einer Machete zu töten.»
Die Erfahrung, dass Gewalt nicht nur von der Polizei, dem Militär oder den Paramilitärs ausgeht, sondern teilweise innerhalb der bedrohten Gemeinschaften selbst geschieht, verstört. Sie ist aber exemplarisch für die Komplexität des Konfliktes mit längst verwischten Frontlinien. Nachdem die mexikanische Re-gierung hatte zur Kenntnis nehmen müssen, dass ein offener Krieg gegen die Aufständischen zu internationalen Protesten und einem gewaltigen Imageverlust führte, entschied sie sich für den sogenannten Krieg niedriger Intensität, eine Strategie der versteckten Kriegsführung. So werden etwa regierungstreue Dörfer dazu angestachelt, aufständische Gemeinschaften von deren Land zu vertreiben und es selber in Besitz zu nehmen. Die Aufständischen werden zudem mit Geld dazu verlockt, ihren Kampf aufzugeben. Oder sie werden – wie im obigen Beispiel – ohne Beweise krimineller Taten beschuldigt. Die Gemeinschaften stehen somit unter einem grossen Druck, der im Extremfall zu interner Gewalt führt. In einer solchen Situation braucht es Institutionen wie das FRAYBA, das unabhängig über Menschenrechtsverletzungen berichtet und Vermittlungen anbietet. Das FRAYBA wiederum ist auf uns Beobachter vor Ort angewiesen.
Konflikte wie jener in Chiapas werden nicht durch Menschenrechtsbeobachtung gelöst. Diese kann jedoch einen wirksamen Beitrag zum Schutz der zivilen Bevölkerung leisten und zur Verhinderung oder zumindest Offenlegung von Menschenrechtsverletzungen leisten. Die Bevölkerung sagt auch 17 Jahre nach dem zapatistischen Aufstand: «Wir wollen nicht, dass ihr geht!»
Mehr Informationen: www.peacewatch.ch
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von Februar 2011
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion