Eine Familie aus Eritrea (Nothilfezentrum Zürich Altstetten). © Jacek Pulawski
Eine Familie aus Eritrea (Nothilfezentrum Zürich Altstetten). © Jacek Pulawski

MAGAZIN AMNESTY Nothilfe Elend made in Switzerland

Das Leben in einem Nothilfezentrum ist ohne Perspektive und meistens trist und monoton. Die BewohnerInnen befinden sich, zur Untätigkeit verdammt, in einer Art Schwebezustand. Ein Augenschein im Nothilfezentrum Juchstrasse in Zürich Altstetten.

Das Zentrum liegt ganz am Rand. Vom Bahnhof Altstetten aus führt der Weg zunächst an den grossen Verwaltungsgebäuden der Banken vorbei, dann weiter entlang Fabrikhallen und Recyclinghöfen bis zu einem Strassenschild mit dem Hinweis «Sackgasse». Von dort geht es noch weiter, bis ganz hinaus an den Zaun der Autobahn. Hier stehen vier lange, niedrige Baracken aus rohem Holz. Im Vorraum einer Baracke hängt ein leeres Anschlagbrett. Ein langer, schmaler und schlecht beheizter Gang führt zu den Zimmern. Ein Fenster an der weit entfernten Stirnseite ist das einzige Licht. Wenn ein Lastwagen vorbeifährt, wird es einen Moment lang dunkler, so nah ist die Autobahn.

In diesen Baracken ist die Notunterkunft Juchstrasse untergebracht, eine von sieben Notunterkünften im Kanton Zürich. Hier leben 90 Menschen auf engstem Raum zusammen. Das Zentrum gilt als familienfreundlich. Nicht nur alleinstehende junge Männer wohnen hier, sondern auch Frauen und sechs Kinder mit ihren Eltern. Zwei der Kinder sind im Zentrum zur Welt gekommen. Seit der Aufnahme des Betriebes im Jahr 2006 leitet Reto Weber die Unterkunft. Der stämmige und etwas hemdsärmlige Mann, der schnell wechseln kann zwischen herzlich und hart, kennt sich aus im Asylwesen und hat zuvor lange ein Durchgangszentrum geleitet, in dem Asylsuchende auf ihren Asylentscheid warten. Die Menschen, die Reto Weber hier in der Notunterkunft betreut, haben schon einen ablehnenden Entscheid erhalten. Der Staat will, dass sie gehen. Das Zentrum ist keine mildtätige Einrichtung, es dient der Zermürbung. Es gibt weder eine Tagesstruktur noch eine Beschäftigungsmöglichkeit. Reto Weber sagt: «Ich habe nicht den Auftrag, Menschen zu plagen, und ich mache das auch nicht. Aber insgesamt ist die Nothilfe ganz klar ein System zur Vergraulung. Viele Weisungen im Alltag der Nothilfe lassen sich nur so erklären.»

Spiessrutenlauf erwünscht

Der Kanton Zürich hat eine ganze Reihe einschränkender Massnahmen entwickelt, die einen grossen Zusatzaufwand bedeuten und die dennoch umgesetzt werden. So muss ein Teil der Männer in der Nothilfe jede Woche die Unterkunft wechseln. Ihre wöchentliche Unterstützung von 60 Franken erhalten die Abgewiesenen nicht in Bargeld, sondern in Migros-Gutscheinen. Um im Aldi oder in einem türkischen Geschäft das Maximum aus dem Notgroschen zu machen, tauschen alle, die können, ihre Gutscheine bei Bekannten wieder in Bargeld um.

Menschen in der Nothilfe haben keine Papiere mehr. Der Umgang mit den Behörden wird dadurch zum permanenten Spiessrutenlauf. Zum Beispiel können sie keine eingeschriebenen Briefe auf der Post abholen. Versuche der Nothilfezentren, ihren Bewohnern ein behelfsmässiges Identitätsdokument auszustellen, hat das kantonale Sozialamt aktiv ver-hindert. So kommt es, dass Abgewiesene die negativen Entscheide des Kantons gar nicht abholen können, weil der Kanton selber dies verhindert. Reto Weber erzählt, wie er begonnen habe, den Bewohnerinnen und Bewohnern der Unterkunft statt einer Wohnsitzbestätigung bloss eine Abholbestätigung zu geben, für einen bestimmten eingeschriebenen Brief. Doch auch das hat das kantonale Sozialamt untersagt.

Illegale Körper

Sechs unter den insgesamt mehr als 200 Menschen, die im Laufe des letzten Jahres an der Juch-strasse untergebracht waren, haben sich durch die widrigen Umstände abschrecken lassen und sind freiwillig ausgereist. Die Übrigen wurden verhaftet oder tauchten unter. Je schwächer und unflexibler die Menschen sind – etwa Familien –, desto schwerer fällt es ihnen unterzutauchen und desto enger sind sie an die Struktur des Nothilfezentrums gebunden. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als sich in der Trostlosigkeit dauerhaft einzurichten. Zum Beispiel Hanif*: Er ist 29 Jahre alt, stammt aus dem Norden Pakistans und lebt seit 2006 in der Notunterkunft. Er sitzt im karg möblierten Aufenthaltsraum, durch den eine multikulturelle Spielgruppe tobt. Eine Mutter konfisziert das Dreirad und stellt es ausser Reichweite der Kinder auf den Kühlschrank. Nun ist es etwas ruhiger. Hanif kann erzählen. Er kam mit 20 Jahren in die Schweiz, um in Luzern eine Tourismusschule zu absolvieren. Als sich die Situation in seiner Heimat verschlechterte, stellte Hanif ein Asylgesuch. In der Zeit vor dem ablehnenden Entscheid der Behörden war er Küchenchef in einem Restaurant in der Stadt Zürich und verdiente 4800 Franken im Monat. Umso bitterer empfindet er nun die Nothilfe: «Das ist mein ganzes Leben», sagt er und öffnet seinen Spind: zwei Pfannen, Essgeschirr und etwas Nudeln. Vor einigen Tagen ist Hanif Vater geworden. Allen, denen er auf den dunklen Gängen begegnet, zeigt er auf dem Display seiner Kamera das Foto der jungen Familie. Die Mutter ist Schweizerin. Er hat sie im Internet kennengelernt. «Jetzt ist endlich etwas Gutes passiert in meinem Leben», sagt er. Doch um Hoffnung zu schöpfen, ist Hanif schon zu lange in der Nothilfe: «Meine Zukunft wird ein dunkles Leben sein. Ich bin nichts als ein illegaler Körper.» Werden die Schweizer Behörden den Machtkampf gewinnen, den sie gegen ihn führen? Hanif schüttelt den Kopf. An dem sanften Mann mit der weichen Stimme sind schon alle zermürbenden Massnahmen gescheitert. «Wenn eine Schraube immer weiter angezogen wird und trotzdem nicht greift, dann stimmt etwas mit der Schraube nicht», sagt er. Hanif erhält von Pakistan keine Papiere. Wie viele andere Menschen im Nothilfesystem könnte er selbst dann nicht ausreisen, wenn er wollte. Die Behörden führen Hanif in ihren Statistiken als «Altfall» und als «Langzeitbezüger».

In dieselbe Kategorie fällt auch Hassan* aus Bangladesch. Er sitzt in dem Zweierzimmerchen, das ihm zugewiesen ist, starrt an die rohe Wand und raucht eine selbst gedrehte Zigarette nach der anderen. Er ist seit 13 Jahren in der Schweiz und seit 3 Jahren in der Notunterkunft Juchstrasse. Hassan schüttelt beim Sprechen ständig den Kopf und fährt sich durch die Haare. Er lebe «in limbo», also im ersten Kreis der Hölle, dort, wo nach katholischer Theologie die Babys hinkommen, die sterben, bevor sie getauft wurden. Im Gegensatz zum Fegefeuer ist der erste Kreis der Hölle genau so kalt wie die Notunterkunft. Dafür gibt es auch keine Aussicht auf Erlösung. Wer hier landet, bleibt bestraft für die Ursünde, auf die Welt gekommen zu sein.

Hassan ist täglich nur kurz im Zentrum anwesend, um seinen Gutschein zu holen. Nachdem er einige Monate an der Juchstrasse gelebt hatte, wurde er Zeuge einer Messerstecherei. «Ich bin in die Schweiz gekommen, um nicht wieder Blut sehen zu müssen», sagte er sich und suchte nach einer anderen Übernachtungsmöglichkeit. Er fand sie in verschiedenen besetzten Häusern in der Stadt Zürich. Momentan wohnt er in einem Haus ohne Strom und Wasser. Am Nachmittag geht er in den Wald, um Holz zu sammeln.

Unter dem Bett, das er nie benutzt, kramt Hassan einen Gerichtsentscheid hervor, der ihn vom Vorwurf des illegalen Aufenthaltes freispricht. Hassan habe keine Möglichkeit, die Schweiz zu verlassen, da er trotz intensiver Bemühungen keine Papiere erhalte, steht in dem Entscheid. Für die Zeit, die er unschuldig im Gefängnis verbrachte, erhielt er eine Genugtuung. Eine Aufenthaltsbewilligung bekommt Hassan jedoch nicht. Er kann zwar nicht gehen, aber bleiben darf er auch nicht.

Verteilte Abhängigkeit

Wie Hassan wählen viele Bewohnerinnen und Bewohner der Juchstrasse eine Mittellösung zwischen Untertauchen, das zum Verlust des Migros-Gutscheines führt, und dem Vegetieren im Nothilfezentrum, das sie früher oder später wahnsinnig macht. Im Gegensatz zu anderen Kantonen, wie etwa dem Kanton Bern, verlangt der Kanton Zürich nicht dauernde Anwesenheit im Zentrum. Je mehr Menschen nur pro forma im Zentrum leben, desto weniger Konflikte entstehen.

Meena*, eine 50-jährige Frau aus Indien, steht in der Gemeinschaftsküche. Eine feuchtwarme Luft voller Gerüche aus Essen, Tee und Mensch staut sich hier, gleich wie in einem Skilager. Sie kocht Reis mit Thunfisch und Ei. Mehr als ein Migros-Gutschein sei in der Pfanne, sagt sie. Denn für morgen muss es auch noch reichen. Meena erzählt, wie sie ihre Woche anhand der «Bible Studies» der verschiedenen Kirchgemeinden in der Umgebung strukturiert. Dazwischen verbessert sie ihr Deutsch in der Autonomen Schule Zürich, wo Freiwillige in einem besetzten Güterschuppen gratis Unterricht erteilen. Das Abo für den Zug zahlt eine Kirchgemeinde. Menschen wie Meena, die lange Erfahrung haben mit der Nothilfe, haben gelernt, die Abhängigkeit von fremder Hilfe breit zu verteilen und so relativ unabhängig von der Nothilfestruktur leben zu können.

Zur Verhaftung frei

Heute will Meena mit dem Zug in das Nothilfezentrum nach Hinteregg fahren, wo sie zuvor lange untergebracht war. Eine Frau aus dem Dorf dekoriert das Zentrum für Weihnachten und Meena wollte dabei helfen. Doch daraus wird nichts. Die Polizei steht vor der Tür. Zwei Bewohner sind verhaftet und warten mit dem Gesicht zur Wand, die Hände auf den Rücken gebunden. Die andern erhaschen aus der relativen Sicherheit des Aufenthaltsraumes einen Blick auf die Szene. Reto Weber öffnet das Fenster und ruft der Polizistin zu: «Diese Leute sind hier zu Hause. Sie sind registriert!» – «Diese Nacht kommen sie nicht nach Hause», ruft die Polizistin zurück und grinst. Nach zwei Tagen in Polizeihaft werden sie wieder im Zentrum auftauchen. Ausser illegalem Aufenthalt wirft die Polizei ihnen nichts vor. Doch die Menschen hier sollen spüren, dass sie unerwünscht sind. Praktisch alle – auch die Frauen – waren schon einmal 48 Stunden in Haft. Ohne Strafuntersuchung, ohne Anordnung der Ausschaffungshaft. Einfach so. Reto Weber spricht von einem «Rechen», den die Polizei vor dem Zentrum errichtet hat. Ein Algerier zeigt auf Google Earth, wo im Quartier die Polizei normalerweise abpasst, damit man sie erst entdeckt, wenn es schon zu spät ist zum Umkehren. Manche Bewohner gehen über die Autobahneinfahrt zum Zentrum, um das Risiko einer Verhaftung zu verringern. Selbst die unterirdischen Unterkünfte in Uster und Urdorf sind bei den Leuten weniger verhasst als die Juch-strasse. Das liegt am «Rechen» der Polizei. Diejenigen Nothilfebezüger, die im Kanton herumgeschickt werden, organisieren sich nach Möglichkeit irgendwo sonst ein Bett, wenn sie für eine Woche der Juchstrasse zugeteilt sind.

Wer sonst nirgendwohin kann, gewöhnt es sich langsam ab, am Leben zu sein, so wie alte Leute, die auf nichts mehr hoffen. Sie freuen sich auf den nächsten Termin beim Arzt, um den sie hart kämpfen mussten. Und was immer sie sagen, endet mit einem routinierten Seufzer: «Mein Leben liegt in den Händen von Jesus», sagen sie. Oder: «Ja ja, so ist halt das Leben.»

* Namen geändert

Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von Februar 2011
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion