In Genf entstand schon drei Jahre nach der Gründung der internationalen Bewegung eine Gruppe. Die ersten vier Mitglieder stammten aus der internationalen Gesellschaft der Uno-Stadt Genf: Es handelte sich um die beiden Deutschen Lothar und Ingeborg Belck, den Amerikaner Bob Lyon und den Spanier Herman Lastra. Sie hatten in den Medien von Amnesty erfahren und waren vom internationalen Sekretariat miteinander in Kontakt gebracht worden. 1964 fand in der Wohnung des Ehepaars Belck das erste Treffen statt. Die Gruppe wuchs rasch. 1965 zählte sie elf Mitglieder aus sechs verschiedenen Ländern. 1967 traten die ersten Schweizerinnen und Schweizer der Gruppe bei.
Die ersten drei Gefangenen, für die sich die Genfer Gruppe einsetzte, stammten aus dem damaligen Jugoslawien, aus Süd-Rhodesien und Burma. «Wir standen ihnen und ihren Familien sehr nahe», erinnerte sich Gruppenmitglied Daniel Marchand. Die Mitglieder schrieben nicht nur Briefe, sondern trafen sich mit Diplomaten, informierten sich bei Uno-Beamten und schickten den Angehörigen der Gefangenen Pakete. Zur Finanzbeschaffung nahm man an den Gruppensitzungen eine «Gefangenenmahlzeit» zu sich: einen Apfel, Brot und Wasser. «In einen Korb legte man den Betrag, den man normalerweise für ein Abendessen ausgegeben hätte», so Daniel Marchand.
Prominente Unterstützung erhielt die Gruppe von Sean MacBride. Der ehemalige irische Aussenminister war zu jener Zeit Vorstandspräsident von Amnesty International auf weltweiter Ebene sowie Generalsekretär einer NGO mit Sitz in Genf. Deshalb stand Sean MacBride in Kontakt mit der dortigen Amnesty-Gruppe und machte auch seinen Einfluss geltend, damit die Ratstagung 1969 in der Calvinstadt stattfand.
Deutschschweiz zieht nach
Am 3. Oktober 1967 führte die Genfer Gruppe eine erste Hauptversammlung durch. Ab dann sprach sie von der «Schweizer Sektion». Auf der anderen Seite der Saane dauerte es noch zwei Jahre, bis eine erste Amnesty-Gruppe ins Leben gerufen wurde: Ähnlich wie in der Romandie hatten 1969 drei Menschen, die nichts voneinander wussten, über die Medien von der Organisation erfahren. Es handelte sich um Ursula Hohler (siehe Porträt), Peter Klopfstein und B. Füglistaller. «Wir trafen uns und beschlossen: ‹Wir gründen Amnesty International in der Schweiz!› Klopfstein wurde Präsident, Füglistaller Aktuar und ich Kassierin», erinnert sich Ursula Hohler. Rasch bildeten sich Gruppen in Zürich und Bern. Die frischgebackenen Amnesty-Mitglieder zeigten grossen Einsatz, organisierten Veranstaltungen und schufen ein Ehrenkomitee, zu dem zwei Altbundesräte, Journalisten und die Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt und Kurt Marti zählten.
Erst später merkten die Deutschschweizer, dass es in Genf schon eine Gruppe gab. Man beschloss, sich zusammenzutun. Die Stimmung an der ersten Hauptversammlung am 25. Oktober 1970 in Zürich war gespannt, wie André Daguet, der zu den ersten Deutschschweizer Mitgliedern gehörte, sagt. Ursula Hohler hatte nicht den Eindruck, dass es wirkliche Animositäten gab. «Aber die Genfer Gruppenmitglieder waren vielleicht etwas beleidigt, weil wir einfach Amnesty Schweiz gegründet hatten; die Genfer Gruppe bestand ja schon vorher.» Daniel Marchand dagegen empfand es so, dass die Deutschschweizer die ganze Vorarbeit verleugnen würden. Doch schliesslich konnte man sich zusammenraufen und die gemeinsame Arbeit aufnehmen. Die Schweizer Sektion wuchs ab diesem Moment in fast atemberaubendem Tempo.
Piergiorgio Delorenzi, Gruppengründer im Tessin
Das bewegte Jahr 1968 war vorbei, doch Piergiorgio Delorenzi suchte immer noch nach einer Bewegung, in der er sich engagieren könnte. Fündig wurde er bei Amnesty International. «Amnesty war konkret, effizient und stand über Ideologien, Parteien, Religionen und Machtspielen», erinnert sich «Delo», wie ihn alle nennen. Im Januar 1974 gründeten er und seine Freunde die erste Gruppe im Tessin. Ihre erste Aktion war eine Wanderausstellung mit Amnesty-Plakaten, um die Bewegung auch auf der Südseite der Alpen bekannt zu machen. Dann folgte der Einsatz für drei Gefangene. «Schon bald wurden uns die ersten drei Gewissensgefangenen anvertraut: ein russischer Pastor, eine indonesische Hausfrau und ein Intellektueller aus Argentinien», erinnert sich Piergiorgio Delorenzi.
Am Anfang, mitten im Kalten Krieg, war es nicht einfach, die Öffentlichkeit zu überzeugen. «Es gab Leute, die uns beschuldigten, die fünfte Kolonne des KGB zu sein, und andere hielten uns für angeheuerte CIA-Agenten», sagt der ehemalige Dozent für politische Ökonomie. Doch durch stetige Arbeit konnten die Amnesty-Pioniere im Tessin das Misstrauen abbauen. Die wachsende Zahl an Aktivmitgliedern führte schliesslich zur Aufteilung in vier Amnesty-Gruppen in Lugano, Locarno, Mendrisio und Bellinzona. Piergiorgio Delorenzi ist noch immer aktiv. Blickt er auf seine
37 Jahre bei Amnesty zurück, zieht er ein zufriedenes Fazit: «Indem ich dazu beigetragen habe, das Leben von anderen zu retten, habe ich auch meinem Leben einen tieferen Sinn gegeben.»
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von Mai 2011
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion