José Araújo zeigt auf seinen Garten: «Genau hier soll die geplante Ringstrasse verlaufen, und eine Ecke von unserem Haus müsste auch noch abgeschnitten werden.» Seit 39 Jahren lebt der Rentner in dem fast idyllisch anmutenden Hinterhof, derzeit mit einer Tochter, dem Schwiegersohn und zwei Enkeln. Insgesamt 1800 Familien sollen hier, im Süden von Porto Alegre, dem Ausbau eines Strassenzugs zu einem mehrspurigen Zubringer in Richtung WM-Stadion weichen. Es ist eines der grössten Infrastrukturprojekte der südbrasilianischen Metropole vor der Fussball-WM 2014.
Araújo, 71, gehört auch zu den Sprechern der Betroffenen im Stadtteil Cristal. Viele seiner Nachbarn wohnen ebenso lange hier wie er, aus den Slumhütten der ehemals armen Zuwanderer sind propere Häuser mit Strom- und Wasseranschluss geworden. Ein paar Strassenzüge weiter jedoch zeigt sich Porto Alegre von seiner tristesten Seite: Am Rande eines stinkenden Bächleins hausen Müllsammlerfamilien unter primitivsten Verhältnissen – auch sie sollen der Strassenerweiterung Platz machen.
«Das Volk muss sich zusammentun», sagt Araújo, er freut sich schon auf seinen nächsten Termin in der Stadtverwaltung. Und die Community wehrt sich: Im Februar wurde eine einstündige Strassenblockade organisiert, danach sträubten sich die Betroffenen monatelang dagegen, sich erfassen zu lassen – der erste Schritt zur Umsiedlung. Ende Juni schliesslich musste sich Bürgermeister José Fortunati gut 400 AnwohnerInnen in einer Gemeindeversammlung stellen. Über allgemeine Versprechungen ging er dabei nicht hinaus – eine Abschlagszahlung für die alten Häuser, die Aussicht, in das Sozialwohnungsprogramm der Bundesregierung aufgenommen zu werden, Mietzuschüsse für die Übergangszeit. Wie es gelingen soll, die Betroffenen «in der Nähe» anzusiedeln, konnte der Bürgermeister nicht erklären – auf einem 16 Hektar grossen Grundstück, das der nahe gelegene «Jockey Club» 2010 an eine Immobilienfirma verkaufte, sollen nun 20 Wohn- und Bürotürme der Luxusklasse entstehen.
Immobilienboom
«Die Richtung ist klar: Es geht um ‹soziale Säuberung› mit anschliessender Gentrifizierung», sagt Sérgio Baierle von der NGO Cidade, die die Communities berät, «die Armen sollen aus den zentraler gelegenen Regionen an die Peripherie abgedrängt werden.» Diese Tendenz ist in allen zwölf WM-Austragungsorten zu beobachten, und überall haben sich Betroffene und Aktivisten zu sogenannten WM-Volkskomitees zusammengeschlossen. Die WM wie auch die Olympischen Spiele 2016 in Rio seien der «perfekte Vorwand», um schon länger bestehende Tendenzen in den brasilianischen Städten fortzuschreiben, meint Baierle: «Es gibt einen unbeschreiblichen Immobilienboom – und das, obwohl schon jetzt mehr Wohnungen frei stehen, als das offizielle Wohnungsdefizit beträgt.» Es handle sich um eine «politische Entscheidung» für ein Entwicklungsmodell, das die soziale Kluft reproduziere, ja sogar verstärke.
Besonders bitter ist das in Porto Alegre, das dank seines «Bürgerhaushalts» lange Zeit als Paradebeispiel für kommunale Mitbestimmung galt. Zwar musste der letzte Bürgermeister der linken Arbeiterpartei PT Ende 2004 abtreten, doch mit Dilma Rousseff stellt die PT die Präsidentin ebenso wie im Bundesstaat Rio Grande do Sul den Gouverneur. Ohne Bundesmittel in Milliardenhöhe würde die WM grandios scheitern, doch grosse Baukonzerne und korrupte Fussballfunktionäre haben das Heft fest in der Hand.
Defekte Neubauten
Wie prekär Umsiedlungen selbst bei langem Vorlauf funktionieren, zeigt ein weiteres Beispiel: Wegen der Erweiterung des Flughafens müssen insgesamt 1500 Familien das Armenviertel Vila Dique verlassen. Die neue, gleichnamige Siedlung liegt nun 5 Kilometer weiter östlich. Die Pläne dafür stammen von 2006. Letztes Jahr hätte die Umsiedlung abgeschlossen sein sollen, doch da fing sie erst an. Schon von Weitem sind lange, rötliche Reihen von halbfertigen Backsteinhäusern zu sehen.
Gerade ein Drittel der Familien ist in die fertiggestellten Reihenhäuser eingezogen, aber wirklich zufrieden ist kaum jemand. Gilberto Comin lebt mit Frau Carmen und ihrer kleinen Tochter in einer der winzigen, zweistöckigen Wohnungen. «42 Quadratmeter sollten sie ursprünglich gross sein, nun sind es nur 35», schimpft der 38-jährige Maurer. «In den ersten Wohnungen kommt schon das Wasser durch die Risse an der Wand», sagt Gilberto Comin, «bisher gibt es weder Kinderkrippen noch eine Schule oder einen Gesundheitsposten.» Seine Frau ergänzt: «Wenn die Leute krank sind, fahren sie in unser altes Viertel und stellen sich früh um drei am Gesundheitsposten an.»
Für das Strassenprojekt im Süden der Stadt verheisst das nichts Gutes. ««Selbst im bestmöglichen Fall, nämlich wenn alle Betroffenen in der Region selbst angesiedelt werden, dürften sie 2012 und 2013 in Übergangshäusern oder in Sozialmiete verbringen», sagt die Geografin Lucimar Siqueira voraus, die bei Cidade für die WM-Projekte zuständig ist. Wahrscheinlicher sei allerdings immer noch das Szenario, dass viele AnwohnerInnen an die Peripherie mit mangelhafter Infrastruktur wie im Fall der ‹neuen› Vila Dique umgesiedelt würden – weit weg von Heimatviertel und Arbeitsplatz. «Viele haben nicht nur ihr Haus, sondern ihr ganzes Leben hier aufgebaut», sagt Siqueira.
Leandro Anton, ebenfalls Geograf, gehört zu den Organisatoren des Widerstands. «Auch wenn die sozialen Bewegungen deutlich schwächer dastehen als vor 20 Jahren, sind wir in Brasilien besser und viel früher aufgestellt als etwa die AktivistInnenen in Südafrika oder in China vor den Olympischen Spielen», sagt Anton, «viele Jugendliche werden durch die Mitarbeit in den WM-Volkskomitees politisiert.» «Der neoliberale Vormarsch in der Stadtpolitik ist ja ein globales Phänomen», analysiert der Aktivist, «auch die Arbeiterpartei hat dem wenig entgegensetzen können.» Zwei «grosse Siege» in Porto Alegre machen ihm Mut: 2009 stimmten bei einer Volksbefragung 80 Prozent gegen ein Immobilienprojekt am Guaíbasee. Und vor einem Jahr wurde im Landesparlament der geplante Verkauf eines riesigen Grundstücks auf einem malerischen Hügel an Immobilienhaie gekippt – 4000 arme Familien hätten umgesiedelt werden müssen.
In beiden Fällen kam es zu Allianzen zwischen ökologisch gesinnten Mittelschichtsgruppen, linken Aktivisten und den direkt Betroffenen aus der jeweiligen Region. «Im Fall der WM-Projekte ist das nicht so einfach, denn gerade die Ärmsten, die kaum politisiert und mit dem täglichen Überleben beschäftigt sind, lassen sich nur schwer organisieren», sagt Anton.
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von September 2011
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion