AMNESTY: Wie erfuhren Sie, dass Ihre Schwester Laura im WTC ums Leben gekommen ist?
Terry Rockefeller: Laura war Schauspielerin und Sängerin. Sie lebte in Manhattan. Als ich am 11. September 2001 die Nachricht erhielt, dass ein Flugzeug in den Nordturm gekracht war, rief ich sie an. Nicht aus Sorge, sondern weil ich mit ihr darüber sprechen wollte. Doch sie nahm das Telefon nicht ab, so oft ich sie auch anrief. Schliesslich erreichte mich eine Freundin von Laura, die wusste, dass meine Schwester an jenem Tag ein Seminar im obersten Stock des WTC moderierte. Mir war sehr schnell klar, dass Laura nicht mehr leben konnte. Dann musste ich meine Eltern anrufen und es ihnen sagen.
Wie konnten Sie den Tod Ihrer Schwester akzeptieren?
Die Angehörigen durften einige Tage nach den Anschlägen den Ground Zero besuchen. Er war damals abgesperrt und in den Trümmern glimmten immer noch Feuer. Wir fuhren mit einem Boot und dockten nahe am Ground Zero an. Es sah aus wie ein Kriegsgebiet. Der Besuch bestätigte mir das Ausmass und die Bösartigkeit der Attacke. Gleichzeitig fühlte ich: Wenn wir darauf mit Gewalt antworten, entsteht noch mehr Gewalt.
Welche Art Antwort wünschten Sie sich als Angehörige?
Ich wollte, dass es eine Untersuchung gibt, dass die Polizei aktiv wird, dass Leute verhaftet und öffentlich vor Gericht gestellt werden. Das schien mir das Sinnvollste. Aber bald realisierte ich, dass es keine Untersuchung, sondern einen Krieg geben wird. Ich hatte gerade meine Schwester verloren, und ich wusste, dass andere Zivilpersonen ihre Angehörigen verlieren würden, wenn Bomben abgeworfen werden. Im Februar 2002 trat ich der Vereinigung Peaceful Tomorrows bei, die aus Angehörigen von 9/11-Opfern besteht und sich für ein gewaltloses Vorgehen einsetzt. Wir waren schockiert, als George W. Bush den ersten Jahrestag des Anschlags nutzte, um die Kriegstrommel gegen den Irak zu rühren.
Sie reisten selber in den Irak.
Ja, im Januar 2003. Damit wollten wir vermitteln, dass moderne Kriege immer zivile Opfer fordern. Die Soldaten bekämpfen sich nicht mehr einfach auf Schlachtfeldern. Ich hatte mir viele Gedanken gemacht über diese Reise, weil ich fürchtete, dass sie von Saddam Hussein zu Propagandazwecken missbraucht würde. Mir war klar, dass er kontrollierte, wen wir treffen und was wir sehen. Doch es war sehr bewegend. Wir sahen Leute, die im ersten Golfkrieg verwundet wurden, und besuchten einen Bombenschutzraum, der irrtümlich bombardiert worden war. Diese Szene erinnerte mich an Ground Zero. Ich blieb mit den Leuten, die ich getroffen hatte, im Kontakt. Doch nach der US-Invasion brach er ab.
Kam der Kontakt mit irakischen Menschen je wieder zustande?
Seit 2007 arbeite ich zusammen mit einer irakischen Organisation. Ich traf Mitglieder der Bewegung 2008 und 2009 in Arbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak. Diese Organisation setzt sich für Gewaltlosigkeit ein. Sie engagiert sich auch für die Integration der verschiedenen Minderheiten. Sie macht Ähnliches wie Amnesty International: Wenn etwa ein Journalist verhaftet wird, schlägt sie Alarm. Die Organisation möchte auch erreichen, dass Gesetze geändert werden, damit sie besser mit den Menschenrechten übereinstimmen. Im Moment können etwa Journalisten aufgrund eines Gesetzes verhaftet werden, wenn sie Politiker kritisieren.
Diese Organisation ist ein Zeichen der Hoffnung aus einem Land, das sonst sehr desolat scheint.
Ja. Diese Menschen arbeiten wirklich für die Menschenrechte. Und für mich selber bedeutet es sehr viel, dass sie mich nicht hassen, weil ich Amerikanerin bin. Ich hoffe, dass die
Verantwortlichen für Kriegsverbrechen und Folter zur Rechenschaft gezogen werden.
Wird Präsident Obama die Täter zur Verantwortung ziehen?
Obama hat gesagt, dass es wichtig sei, nach vorn und nicht zurück zu schauen. Ich hingegen denke, dass es zentral ist, vergangene Fehler aufzuarbeiten. Obama hat definitiv eine andere Sicht auf die Welt als Bush und damit das Ansehen der USA wieder verändert. Doch wir hatten uns so viel erhofft von seinem Kampagnenversprechen, das Gefangenenlager Guantánamo zu schliessen, denn es ist ein solch grosses Symbol für das begangene Unrecht. Natürlich sind es die Konservativen im Parlament, die verhindern, dass die Gefangenen in die USA transferiert werden. Hier sind Obamas Hände gebunden. Aber wir sind dennoch sehr enttäuscht. Peaceful Tomorrows verlangt, dass Terrorverdächtige vor zivile Bundesgerichte gestellt werden. Denn wir denken, dass diese bessere und erfahrenere Arbeit leisten könnten als die Militärgerichte.
Sie selber nahmen an einem Verfahren gegen einen Terrorverdächtigen teil.
Zacharius Moussaoui wurde angeklagt, an der Vorbereitung der Anschläge vom 11. September 2001 beteiligt gewesen zu sein. Er wurde lange in Isolationshaft ge-halten und hatte ganz klar
ein psychisches Problem. Schliess--lich erklärte er sich für schuldig. Ich schrieb der Richterin einen Brief, dass ich – als Angehörige eines Opfers – nicht wollte, dass Moussaoui die Todesstrafe erhält. Schliesslich sagten etwa 15 Angehörige für die Verteidigung aus. Am Ende erhielt Moussaoui lebenslänglich, ohne Möglichkeit auf Begnadigung.
Wie fühlten Sie sich, als Sie hörten, dass Osama bin Laden tot ist?
Wir waren damals in den Ferien in Istanbul, und mein Mann weckte mich auf. Mein erster Gedanke war: Wie wurde bin Laden getötet? Hatte man ihn einfach erschossen oder hat man ihn zu verhaften versucht? Die ganze Wahrheit wird man wohl nie wissen. Ein Teil von mir denkt: Wie würde die Welt aussehen, wenn man ihn im Herbst 2001 gefasst hätte?
Wenn Sie auf die letzten zehn Jahre zurückblicken, was ist Ihr Fazit?
Ich glaube, wir brauchen mehr interkulterellen Austausch und grösseres Verständnis. Doch das kann nicht nur die Regierung leisten, das muss jede und jeder einzeln angehen. Ich finde es erschreckend, dass es in den USA Leute gibt, die den Koran verbrennen oder Muslime am Beten in der Nähe von Ground Zero hindern wollen. Wir müssen noch stärker darüber nachdenken, wie es dazu kommen konnte, dass religiöser Fanatismus zu den 9/11-Anschlägen führten konnte. Auch die Anschläge vom Juli in Norwegen sind in einem islamophoben Kontext zu lesen.
Wie könnte Terror gesetzeskonform bekämpft werden?
In den Tagen nach 9/11 gab es die Chance, dass selbst vormalige Feinde der USA bereit gewesen wären für Diplomatie und dafür, Verdächtige zu verhaften. Wir können das Rad nicht zurückdrehen, aber wie wäre es gewesen, wenn Juristen aus aller Welt zusammengearbeitet hätten und Polizeikräfte international mit Hockdruck versucht hätten, die Schuldigen zu verhaften? Wenn sofort gezeigt worden wäre, dass internationale Justiz und Polizei funktionieren? Die Kriege, die folgten, haben den Terrorismus verstärkt. Wenn ich über Gewaltlosigkeit spreche, dann bin ich nicht naiv. Ich will nicht «Kumbaya» mit Terroristen singen. Aber ich denke, dass das Gesetz eine sehr mächtige Kraft ist.
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von September 2011
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion