Es ist Mittagszeit. In Esmas Hütte ist es heiss und staubig. Ein Ventilator bläst den Besuchern lauwarme Luft ins Gesicht. In einer Ecke sind Kleider gestapelt, einige Matratzen dienen als Sofa. Die ganze sechsköpfige Familie teilt sich nachts das enge Schlafzimmer. Die Wände und das hölzerne Dach sind nicht dicht. Vor der Hütte türmt sich Abfall. Der Geruch von Müll ist allgegenwärtig.
Die 36-jährige Serbin Esma und ihr Mann haben ihre bescheidene Unterkunft mit den eigenen Händen errichtet. Sie leben in Belvil, einer informellen Romasiedlung in Novi Beograd, dem grössten Stadtbezirk Belgrads. Die Ansammlung von Hütten bietet etwa 150 Menschen Unterschlupf. Die Siedlung liegt, nur einen Steinwurf von einem 4-Stern-Holiday-Inn entfernt, unter und neben einer Brücke. Alles ist improvisiert, der Siedlung droht die Zwangsräumung. Wasser gibt es nicht. Ihre Notdurft verrichten die Familien im Freien oder in der Gemeinschaftstoilette.
Esma und die 59-jährige Borka, ebenfalls eine serbische Roma, sind zu einem Interview bereit. Andere BewohnerInnen mögen nicht reden und wenden sich ab, wenn die Fotokamera gezückt wird. Esma hat ihr ganzes Leben lang in Siedlungen wie Belvil gewohnt. Sie hat vier Kinder im Alter von 4 bis 20 Jahren. Borka führte ein anderes Leben, bis sie nach der Scheidung in ein Loch stürzte. Sie ist die Einzige unter den Leuten in Belvil, die in der Belgrader NGO Regional Centre for Minorities für eine Verbesserung ihrer Lage kämpft.
Wie sieht Ihr Alltag in dieser Siedlung aus?
Esma: Ich bin den ganzen Tag hier und kümmere mich um die Kinder. Gleich nach dem Aufwachen muss ich an einem Hydranten Wasser holen. Dafür muss ich etwa einen Kilometer zu Fuss gehen, was ich mehrmals täglich tue.
Wie verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?
Esma: Mein Mann sammelt Schrott und verkauft ihn weiter. Dafür erhält er täglich Geld, aber es ist sehr wenig, etwa 500 Dinar pro Tag (etwa 5,50 Franken). Früher führten wir einen Flohmarkt, aber der wurde von den Behörden geschlossen.
Borka: Gelegentlich helfen die Frauen beim Abfallsammeln. Manchmal gehen sie auch zur Bäckerei und erhalten dort gratis jene Waren, die am nächsten Tag nicht mehr verkauft werden können.
Gehen die Kinder zur Schule?
Esma: Der Jüngste ist noch zu klein. Die Achtjährige besucht die Schule, aber sie weigert sich oft, denn ich kann ihr kein Taschengeld mitgeben, und sie muss dort für alles bezahlen. Die zweitälteste Tochter hat Köchin gelernt, doch sie hat keinen Job.
Besuchen nur Romakinder diese Schule?
Esma: Nein, es ist eine reguläre Schule.
Borka: Die Behörden versuchen, Romakinder in spezielle, getrennte Schulen zu schicken, aber wir kämpfen dagegen an. Roma sind die verletzlichste Bevölkerungsgruppe des Landes. Seit den 1990er-Jahren haben die Kinder in Serbien bessere Chancen auf Bildung. Fast alle gehen zur Schule, lernen lesen und schreiben. Ich hoffe, dass die nächste Generation der Roma aufschliessen und so den Lebensstandard Schritt für Schritt verbessern kann.
Wie kommen Sie zu Strom oder medizinischer Versorgung?
Esma: Wir haben Strom, aber es ist illegal. Wir zapfen die Leitungen an. Die Stromanbieter kommen alle 10 Tage, schneiden die Kabel durch und nehmen sie mit. Dann zapfen wir die Leitung wieder an. Meine Kinder gehen regelmässig zum Arzt. Sie haben die nötigen Papiere, da sie in Belgrad geboren und registriert wurden. Andere Familien haben aber keine Ausweispapiere und deshalb auch keine medizinische Versorgung.
Die Behörden haben mehrmals Zwangsräumungen dieser Siedlung angekündigt. Was bedeutet das für Sie?
Esma: Ich habe Angst. Sie haben letztes Jahr bereits versucht, uns zu vertreiben, aber wir haben dagegen protestiert. Ich habe Borka aufgesucht und sie hat mir geholfen, gegen die Stadtbehörden anzukämpfen. Wenn sie wiederkommen und versuchen, uns zu vertreiben, werde ich die Polizei holen. Ich habe das Recht, meine Familie zu schützen. Die Behörden kommen manchmal und sagen, dieses Land gehört uns, in 24 Stunden müsst ihr von hier weg sein. Aber ich gehe nicht.
Wie ist die Stimmung in der Siedlung?
Esma: Die Leute helfen einander nicht. Es gibt Streit. Die Gemeinschaft ist geteilt, was die Zwangsräumungen anbelangt. Viele hoffen, dass wir nach der Räumung Häuser bekommen. Die Behörden haben deswegen eine Liste angelegt. Wer nicht auf dieser Liste ist, macht sich Sorgen.
Die Bewohner und Bewohnerinnen werden also gegeneinander ausgespielt?
Borka: Ja. Die Stadtbehörden möchten den Leuten am liebsten einfach Geld geben und sie so loswerden. Aber sie können uns nicht vertreiben, wenn sie keine Papiere für uns haben. Sie platzieren Leute hier in den Siedlungen, um uns einzuschüchtern. Diese Leute arbeiten für die Behörden und verbreiten Gerüchte über Zwangsräumungen und darüber, dass wir mit Drogen handeln würden. Die Behörden sagen, dass wir viel Unterstützung bekommen, aber das ist nicht wahr.
Wie ist die Situation der Frauen in Belvil?
Borka; Die Frauen sind besonders schlecht ausgebildet und haben zu Hause nicht viel zu sagen. Die Männer treffen die Entscheidungen für die gesamte Familie. Die Frauen tragen aber häufig die ganze Last im Haushalt. Darum beträgt die Lebenserwartung für Romafrauen in informellen Siedlungen nur 48 Jahre, wie das Ministerium für Menschenrechte und für Minderheiten 2009 herausfand. (Anm. der Redaktion: Ansonsten liegt die durchschnittliche Lebenserwartung in Serbien gemäss CIA World Factbook bei 74 Jahren.)
Wie sehen Sie die Zukunft für sich selbst und für Ihre Kinder?
Esma: Mein grösster Wunsch ist es, eine angemessene Unterkunft zu haben und meinen Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Ich selbst kann nicht lesen und schreiben, und ich möchte nicht, dass meine Kinder auch Analphabeten sind.
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Slums in Serbien
Informelle Siedlungen existieren in vielen Ländern Europas, darunter Italien und Frankreich. In Serbien leben in diesen Slums fast ausschliesslich Roma. Grund für diese Ausgrenzung sind tief verwurzelte Vorurteile gegen diese Minderheit. Lokale Organisationen sprechen von 270000 betroffenen Menschen in 600 Siedlungen. Die Erhebung genauer Zahlen ist schwierig, da vielen Roma in Serbien Ausweispapiere verweigert und die Siedlungen immer wieder geräumt werden. Auch der Belvil-Siedlung droht wegen eines geplanten Strassenbaus die Zwangsräumung.
Amnesty International fordert, dass die informellen Siedlungen legalisiert werden. Können die Lebensbedingungen nicht verbessert werden, müssen die betroffenen Familien gemäss Menschenrechtsstandards umgesiedelt werden. Dieser Forderung verliehen Amnesty-Mitglieder im Juli am renommierten serbischen Musikfestival «Exit» Nachdruck: Gemeinsam mit der lokalen NGO Regional Centre for Minorities sammelten sie Bilder für eine Fotopetition.
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von September 2011
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion