AMNESTY: Die Medien sprechen von der grössten Hungerkatastrophe am Horn von Afrika seit 60 Jahren. Dürreperioden sind in dieser Region normal, was war dieses Jahr anders?
Hans Hurni: 60 Jahre stimmt wohl nur für ein beschränktes Gebiet. Das ist eine Dürre, die sich diesmal im Länderdreieck von Äthiopien, Somalia und Kenia abspielt. Obschon drei Länder betroffen sind, ist das Dürregebiet nicht sehr gross, aber trotzdem rund vier Mal so gross wie die Schweiz. Im Verhältnis zu früheren Dürren, die viel stärker das Ackerbaugebiet am Horn von Afrika getroffen haben, sind weniger Menschen betroffen. Im Tiefland, das von Pastoralisten, von viehzüchtenden Nomaden, bewohnt wird, leben maximal 10 bis 15 Menschen pro Quadratkilometer, im Hochland, wo die sesshaften Ackerbauern leben, sind es bis zu 400 Menschen pro Quadratkilometer. Wenn also im Hochland eine Dürre auftritt, kann das sofort 10, 20 oder 30 Millionen Menschen betreffen. Die Dürre in diesem Jahr ist im Tiefland aufgetreten, deshalb sind weniger Menschen betroffen. Ich würde dies auf keinen Fall als die grösste Hungerkatastrophe der letzten 60 Jahre bezeichnen. Ich erinnere mich noch an die Hungersnot von 1972/73 und an diejenige von 1984/85, die um vieles stärker waren als die diesjährige. Auch die Anzahl der Betroffenen war höher als in diesem Jahr. Die Übertreibung in den Medien hat viel mit der Mobilisierung von Spendengeldern zu tun. Klimatisch gesehen, war es eine mittelstarke Dürre, wie sie fast jedes Jahr irgendwo in der Region vorkommt. Was hingegen die Situation in Somalia so schlimm macht, ist die politische Konstellation. Die diesjährige Hungersnot hat deshalb viel stärker mit Politik als mit dem Klima zu tun.
Wo liegen denn diese Gründe? Die Menschen in diesen Regionen haben ja normalerweise Strategien gegen wiederkehrende Dürrephasen.
Das haben sie, wobei wir unterscheiden müssen zwischen Hochland- und TieflandbewohnerInnen. Von der diesjährigen Dürre sind hauptsächlich Pastoralisten im Tiefland betroffen. Sie bewegen sich mit ihren Herden in einem recht grossen Gebiet. Sie wandern mit den Niederschlägen, die im Frühjahr langsam von Süden nach Norden gehen und sich nach einer kurzen Trockenperiode im Herbst wieder Richtung Süden bewegen. Es gibt zwei kleine Regenzeiten von vielleicht 50 bis 150 Millimeter pro Regenzeit, und die Strategie dieser Pastoralisten ist es, dass sie den Niederschlägen folgen. Mit dieser Wanderbewegung haben sie bis jetzt gut überleben können. Und hier kommt eben die Politik ins Spiel: Das geht nur, wenn keine nationalen Grenzen da sind, die gesperrt sind, und keine Clans, die die Wanderbewegungen verhindern. Die Ursache der diesjährigen Hungerkatastrophe liegt in der gegenwärtigen politischen Blockade in Somalia.
Können die Pastoralisten diese Wanderungen denn vor allem wegen der al-Shabaab-Milizen nicht mehr machen?
Ich glaube, da geht es mehr um Politik, darum, dass die somalischen Clans und Untergruppen die Macht über ihr Einflussgebiet behalten wollen. Sie dulden nicht, dass Bevölkerungen ihre Gebiete durchqueren oder aus ihnen hinausund später wieder hineingehen. Deshalb verhindern sie diese Wanderungsbewegungen. Das hat zur Folge, dass die nomadisierenden Familien stationär bleiben müssen, und damit sind sie mitten in die Dürre geraten, sodass sowohl Menschen als auch das Vieh extrem belastet worden sind. Das hat sehr viel mit der Politik von Somalia zu tun, das als Staat nicht mehr funktioniert und sich in Einzelteile aufgelöst hat. Die sesshaften Bauern in den höher gelegenen Gebieten vor allem in Äthiopien haben andere Strategien gegen Dürren. Sie versuchen, mit Vorratshaltung für mehr als ein Jahr Reserven zu haben, um durchzuhalten. Wenn die Regenfälle während eines ganzen Jahres ausfallen, sind auch sesshafte Bauern gezwungen wegzugehen. Sie ziehen dann in die Städte und an die Strassen, wo sie vom Staat versorgt werden können, von Äthiopien her, von Kenia her. Das funktioniert heute recht gut, das war vor vierzig Jahren noch nicht so.
Hat das damit zu tun, dass in den letzten zehn Jahren Infrastruktur und Strassennetz in Äthiopien stark ausgebaut worden sind, während sie in Somalia zunehmend zusammenbrechen?
Ja, Äthiopien hat gelernt aus den grossen Dürren des 20. Jahrhunderts. Es ist wichtig, dass an wichtigen Knotenpunkten Lebensmittelvorräte gelagert werden und dass sie über funktionierende Strassennetze verteilt werden können. Es muss auch berücksichtigt werden, dass im Süden Äthiopiens vielleicht etwa eine Million Menschen Nahrungsmittelhilfe brauchen. Das ist für einen Staat mit 80 Millionen EinwohnerInnen kein sehr gravierendes Problem, denn es können mit ausländischer Hilfe genügend Vorräte für Bedürftige mobilisiert werden.
Haben die Dürreperioden wegen des Klimawandels zugenommen?
Dazu gibt es in Afrika noch viel zu wenig verlässliche Daten. Wir können deshalb statistisch und wissenschaftlich keine signifikanten Aussagen über die Auswirkungen des Temperaturanstiegs in der Region am Horn von Afrika machen. Was aber ernst zu nehmen ist, ist die Wahrnehmung der Pastoralisten selbst. Sie machen eine komplexere, ganzheitliche Analyse: Sie sagen nicht, der Niederschlag habe abgenommen, sie sagen, die Situation sei problematischer geworden. Damit meinen sie eine Mischung aus Niederschlag, Bewegungsunfreiheit und den fehlenden Ausweichmöglichkeiten. Die Niederschläge kommen gemäss den Pastoralisten nicht mehr so regelmässig wie früher. Sie setzen manchmal früher, manchmal später ein, als sie erwartet haben. Das sind jahrzehntelange Erfahrungen, die ernst genommen werden müssen. Die Menschen merken, wenn das Überleben mit den Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, schwieriger wird. Wir wissen bis jetzt, dass die Temperaturen im Durchschnitt rund drei Viertel Grad gestiegen sind und dass die Extreme zugenommen haben. Die Erhöhung der Temperaturen bedeutet, dass das Klima etwas dynamischer wird, es kommt schneller zu Gewittern und Niederschlägen, aber auch zu längeren Trockenperioden. Das Wetter ist weniger berechenbar und extremer. Das ist vielleicht ein Zeichen des Klimawandels.
Was muss getan werden, damit Hungersituationen wie in diesem Jahr verhindert werden können?
Zum einen muss sich der Staat auf Hungersituationen vorbereiten, er muss Vorräte anlegen, damit er im Notfall Unterstützung leisten kann. Aber es geht zum andern auch darum, diesen Menschen mehr Optionen zum Überleben zu geben. Neben der Selbstversorgung mit Vieh, Milch und manchmal etwas Hirse sollten sie die Möglichkeit haben, Vieh zu verkaufen, um die Güter einkaufen zu können, die sie benötigen. Dazu braucht es zugängliche Märkte und bessere Voraussetzungen für Kauf und Verkauf von Waren. Daneben gibt es die traditionelle lokale Strategie, die besagt, dass den Pastoralisten ihre Mobilität gelassen werden sollte. Sie sollten sich zwischen den Staaten bewegen können, ohne dass sie aufgehalten werden. Sie müssten die Freiheit erhalten, zu entscheiden, wo sie hinwandern wollen. Aber damit haben die Staaten gerade in Ostafrika extrem Mühe, die wollen alle Pastoralisten sesshaft machen. Das ist eine schon seit Jahrzehnten verfolgte Politik, ähnlich wie in Europa mit den Roma. Da will auch kein Staat, dass sie sich bewegen.
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von November 2011
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion