Eine somalische Familie baut sich in einem Flüchtlingscamp in Kenya eine neue Bleibe. © UNHCR / B. Bannon
Eine somalische Familie baut sich in einem Flüchtlingscamp in Kenya eine neue Bleibe. © UNHCR / B. Bannon

MAGAZIN AMNESTY Somalia Zuerst das Überleben sichern

Staatliches Versagen, Konflikte und Trockenheit sind die Gründe für die grosse Hungersnot und die Flucht von Tausenden von Menschen in Somalia. Unter diesen Bedingungen konzentriert sich die Arbeit der humanitären Organisationen in erster Linie auf die Überlebenshilfe.

Von der Hungersnot sind mehrere Regionen im Süden Somalias in der Umgebung von Mogadischu betroffen. Doch die Lebensmittelknappheit ist am ganzen Horn von Afrika spürbar, und die Vereinten Nationen befürchten, dass sich der Hunger noch weiter ausbreiten wird. Politische Instabilität und bewaffnete Konflikte haben die wegen der Trockenheitohnehin prekäre Nahrungsmittelsituation verschlimmert und zu einer grossen humanitären Krise in der Region geführt. Die Bevölkerung flieht vor dem Hunger, nicht nur innerhalb des Landes, sondern auch über die Grenzen hinweg in die Nachbarländer. Gemäss der Uno-Organisation Humanitäre Hilfe (Ocha) sind rund 3,3 Millionen SomalierInnen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) schätzt die Zahl der somalischen Flüchtlinge in den Nachbarländern Kenia, Jemen, Äthiopien und Dschibuti, die insgesamt mehr als 90 Prozent der Betroffenen aufgenommen haben, auf über 900000.

Ausgemergelte Flüchtlinge

Diese Situation hat zu grossen Schwierigkeiten bei der humanitären Arbeit in der ganzen Region geführt. Die Aufnahme der gesundheitlich schwer angeschlagenen Flüchtlinge in den Camps stellt eine der grössten Herausforderungen seit Beginn der Hungersnot im Juni dar. Ein Grossteil der betroffenen SomalierInnen erreicht die Nachbarländer unter dramatischen Bedingungen. «Viele SomalierInnen sind in Somalia gestorben, andere auf der Flucht oder kurz nach ihrer Ankunft im Flüchtlingslager, geschwächt durch den Hunger, den ermüdenden Fussmarsch oder eine Krankheit», erklärt Andrej Mahecic, Sprecher des UNHCR. Unter diesen Umständen bestand eine der wichtigsten Aufgaben der humanitären Organisationen darin, die Sterberate in den Flüchtlingslagern zu senken und das Körpergewicht der Flüchtlinge zu stabilisieren. Ganz besonders galt das für die Kinder, die eine hohe Unterernährungsrate aufwiesen und dadurch besonders anfällig für Infektionen und Krankheiten waren. Diese Bemühungen scheinen erfolgreich zu sein, denn Mitte September hat das UNHCR einen deutlichen Rückgang der Todesfälle und der Unterernährung festgestellt.

Konflikte und Unsicherheit

Abgesehen von der Aufnahme der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer, gibt es eine weitere humanitäre Herausforderung. Es gilt zu verhindern, dass sich Somalia entvölkert, also braucht es Hilfsmassnahmen, damit die SomalierInnen weiter in ihrem Land leben oder dorthin zurückkehren können. Aufgrund der unsicheren Lage im Land sehen sich die humanitären Organisationen jedoch mit grossen Schwierigkeiten konfrontiert: So kamen am 4. Oktober 2011 bei einem Selbstmordattentat der al-Shabaab-Milizen in Mogadischu über 100 Menschen ums Leben, am 13. Oktober wurden aus dem Flüchtlingslager Dadaab in Kenia zwei spanische Mitarbeiterinnen von Médecins Sans Frontières (MSF) nach Somalia entführt. «Betroffen ist vor allem der Süden Somalias, in dem sehr wenige humanitäre Organisationen vertreten sind», erklärt Denise Lüthi, Programmbeauftragte Horn von Afrika bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Für sie stellt der beschränkte Zugang zu den Opfern das grösste Problem dar. Gründe dafür sind die unsichere Lage, besonders in den Konfliktgebieten, und die von den Konfliktparteien erlassenen Restriktionen. Erschwerend kommt hinzu, dass die humanitären Aktionen oft von Nairobi (Kenia) aus koordiniert werden.

Alfonso Verdu, Einsatzleiter in Somalia für MSF, erklärt in einer Mitteilung, dass «es nach wie vor extrem schwierig ist, ausserhalb der Gesundheitszentren von MSF medizinische Nothilfe zu leisten. Trotz unserer Bemühungen und zahlreicher Verhandlungen sind wir immer noch nicht in der Lage, neue Projekte zu eröffnen oder neue Aktivitäten in Südsomalia zu lancieren.»

Dennoch gibt es auch in den Konfliktgebieten im Süden des Landes humanitäre Hilfsaktionen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ist seit 1982 in Somalia vertreten und hat dort über die Jahre ein Partnernetz aufgebaut. «Grundsätzlich sind wir gut akzeptiert, wir haben keine speziellen Sicherheitsprobleme», erklärt Ivan van Loo, IKRKSprecher in Somalia am Telefon. «Wenn wir in Konfliktgebiete gehen, müssen wir natürlich darauf achten, dass unser Vorgehen sehr transparent ist und alle über unsere Route und den Inhalt unserer Hilfeleistungen informiert sind.» Zugangsprobleme gibt es gemäss van Loo jedoch keine, bislang konnten sich die IKRK-Mitarbeitenden in alle Gebiete des Landes begeben.

Langfristige Massnahmen

Sowohl in Somalia als auch in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer besteht die humanitäre Hilfe in erster Linie aus einer Notfallhilfe, die das Überleben sicherstellen und die grösste Not lindern soll. Die im Land vertretenen Organisationen stellen ganz verschiedene Hilfeleistungen zur Verfügung: Nahrungsmittel mit speziellen Rationen für Flüchtlinge, die an Unterernährung leiden, Haushaltsgeräte, Plastikplanen, Decken, medizinische Ausrüstung und medizinische Behandlungen, aber auch Saatgut und landwirtschaftliche Geräte. Trotz des dringenden Handlungsbedarfs ist die humanitäre Hilfe aber langfristig ausgerichtet.

Zwanzig Jahre Instabilität haben die einigermassen ausreichende landwirtschaftliche Produktion im Land in eine Krise manövriert. Aus den Grossbetrieben, die unter Präsident Siad Barré existierten, sind kleine Einzelbetriebe geworden. «Den Bauern fehlen zum Teil die landwirtschaftlichen Kenntnisse und sie haben Schwierigkeiten, an Saatgut und Gerätschaften zu kommen», stellt Ivan van Loo fest. Seit einigen Jahren unterhält das IKRK deshalb Programme, mit denen die somalische Landwirtschaft wieder angekurbelt werden soll. Diese Programme beinhalten die Verteilung von Saatgut und Geräten sowie die Schulung in neuen landwirtschaftlichen Techniken. Letzteres umfasst z.B. den vermehrten Einsatz von Bewässerungsanlagen, was den Vorteil hat, dass die Landwirtschaft weniger regenabhängig ist und dass ausserhalb der Saison produziert werden kann.

Auch in Zukunft müssen die Völker am Horn von Afrika mit Dürreperioden rechnen. Deza-Mitarbeiterin Denise Lüthi präzisiert, dass diese langfristigen Massnahmen dazu beitragen werden, die Menschen gegenüber zukünftigen Krisensituationen resistenter zu machen. Noch muss sich weisen, ob das Entwicklungsprogramm im aktuellen Umfeld Früchte tragen wird. «Eine der Ursachen der aktuellen Krise sind die Konflikte und die sich daraus ergebende politische Instabilität. Wenn dieses Problem nicht gelöst wird, besteht die Gefahr, dass die Bemühungen der zahlreichen Hilfsorganisationen, eine langfristige Entwicklung in Gang zu bringen, scheitern werden.»

Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von November 2011
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion