MAGAZIN AMNESTY Israel/besetzte palästinensische Gebiete «Leitungen nützen nichts ohne Wasser»

Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von März 2012.
In den besetzten palästinensischen Gebieten hat die Zerstörung von Wasseranlagen in den letzten eineinhalb Jahren drastisch zugenommen, sagt Clemens Messerschmid. Der Wasserexperte über den Klimawandel, die Verantwortung der Geberländer und die Folgen von Oslo.
AMNESTY: In Ramallah und Jerusalem fällt mehr Niederschlag als in Berlin. Warum gibt es dann ein solches Problem mit Wasserknappheit?

Clemens Messerschmid: Die Langzeitaufzeichnungen für Jerusalem seit 1946 zeigen, dass im Durchschnitt 600 Millimeter Niederschlag pro Jahr gemessen werden; das ist mehr als in Berlin. Ramallah hat sogar mehr Regen als Paris. Im Bergland, in den am meisten bewohnten Gebieten der Westbank, gibt es relativ viel Niederschlag und bemerkenswert hohe Versickerungsraten des Regens. Das heisst, ein grosser Anteil des Regens wird tatsächlich zu Grundwasser. Am Toten Meer sieht es natürlich anders aus, dort ist es wirklich sehr trocken. Das Wasserproblem ist aber weder ein technisches noch ein meteorologisch-klimatisches; es geht um den Zugang zu den Ressourcen. Für eine gerechte Verteilung brauchte es in der Westbank mehr Brunnen.

Wieso werden diese Brunnen nicht gebaut?

Die Palästinenser brauchen für jegliche Art von Wasserprojekt – sei es ein Brunnen, eine Leitung, eine Quelle, ein Reservoir, sogar für Regensammelzisternen – eine Bewilligung der israelischen Militär-verwaltung, der «Civil Administration». Diese Erlaubnis kann ohne Angabe von Gründen verweigert werden. Wer ohne Erlaubnis ein Wasserprojekt umsetzt, macht sich strafbar, und die errichteten Bauwerke werden vom israelischen Militär zerstört. Diese Zerstörungen haben in den letzten eineinhalb Jahren drastisch zugenommen.

Welche Verantwortung hat die palästinensische Autonomiebehörde? Es gibt den Vorwurf, sie lasse jene Wasseranlagen verkommen, die sie selber betreiben dürfte.

Die israelische Verwaltung verweigert häufig die Erlaubnis für die Instandhaltung der oftmals veralteten Infrastruktur. Und wenn wir doch einmal neue Netzwerke verlegen dürfen, wird dafür kein zusätzliches Wasser bewilligt. Wenn man also für ein Dorf eine neue Leitung legt, hat ein anderes Dorf plötzlich weniger Wasser. Es gibt absurde Projekte, von ausländischen Staaten finanziert: Es werden Wassernetzwerke gebaut, durch die am Tag der Eröffnung Wasser fliesst und danach nicht mehr. Hier müssten die Geberländer ihre Verantwortung wahrnehmen und nicht nur solche Bauwerke finanziell unterstützen, sondern aktiven politischen Druck auf Israel ausüben, dafür auch die Wassermenge zu erhöhen. So wie 1995 bei den Friedensverhandlungen von Oslo vereinbart. Tatsächlich haben aber die Palästinenser heute, 17 Jahre später, weniger Wasser aus Brunnen und Quellen unter ihrer Kontrolle und nicht mehr!

Verändert sich die Diskussion über die Wasserverteilung?

Es gibt einen neuen, rasch anschwellenden Diskurs, den Klimawandeldiskurs, der zu Ungunsten der Palästinenser ausfällt, und er verdrängt zunehmend den historischen Diskurs um palästinensische Wasserrechte. Die israelische Verwaltung sagt, dass es wegen des Klimawandels weniger Wasser geben werde, also könne noch weniger Wasser geteilt werden.

Aber dass der Klimawandel in dieser Region Trockenheit bringen wird, ist doch tatsächlich ein realistisches Szenario?

Natürlich, aber die Prognosen sind noch deutlich schwankend. Die letzte IPCC-Studie (Intergovernmental Panel on Climate Change bzw. «Klimarat», Anm. der Red.) geht von einem möglichen Szenario von 25 Prozent weniger Regen bis Mitte oder Ende des Jahrhunderts aus. Der Punkt in den besetzten Gebieten ist jedoch ein anderer: Egal, ob die Trockenheit zunimmt oder nicht, müsste das vorhandene Wasser oder Grundwasser der Westbank einer fairen Verteilung zugeführt werden. Lange bevor die Klimawandelauswirkungen ins Spiel kommen, müssten die Palästinenser mehr Wasser – sagen wir einmal 400 bis 600 Prozent mehr – erhalten als aktuell, damit ihre internationalen Wasserrechte respektiert wären.

Sie haben bis jetzt von der Westbank gesprochen. Wie ist die Situation in Gaza?

In Gaza ist alles anders. Von den natürlichen Bedingungen her ist Gaza tatsächlich relativ trocken (semi-arid), auch wenn es 300 Millimeter Regen im Jahr hat. In Gaza dürfen die Palästinenser zumindest in der letzten Zeit so viele Brunnen bohren, wie sie wollen. Die Folge ist, dass der Aquifer (Grundwasserleiter, Anm.) in Gaza unter zu vielen palästinensischen Brunnen leidet. Das Hauptproblem neben oder aufgrund der lokalen Überpumpung ist die Wasserqualität. 95 Prozent der öffentlichen Brunnen in Gaza sind versalzen. Die Leute müssen deshalb Kanisterwasser kaufen, das sie 50 Mal mehr kostet als das Leitungswasser.

Ungleiche Wasserverteilung

Während der palästinensischen Bevölkerung pro Person täglich 73 Liter Trinkwasser zur Verfügung stehen, sind es in Israel etwa 300 Liter (die palästinensischen Zahlen beinhalten auch das gewerbliche Wasser). Der palästinensische Wasserverbrauch pro Kopf liegt damit deutlich unter den internationalen Vorgaben zum Schutz der öffentlichen Gesundheit. Amnesty International kritisierte diese diskriminierende Wasserverteilung 2009 in einem ausführlichen Bericht. Die Zuständigkeitslage vor Ort ist kompliziert: Die Westbank wurde als Ergebnis des Oslo- Prozesses in drei Zonen (A, B und C) eingeteilt, in denen die palästinensische Autonomiebehörde und das israelische Militär jeweils andere Befugnisse haben. Israel kontrolliert in den meisten Gebieten der Westbank alle Aspekte des Wasserkreislaufs; sowohl die Regenwassersammlung als auch die Quellwassergewinnung, Brunnenförderung, Bepumpung, Speicherung bis hin zu Abfluss und Entsorgung.

Der deutsche Hydrogeologe Clemens Messerschmid lebt in Ramallah und arbeitet sei rund 15 Jahren in den besetzten palästinensischen Gebieten. Er ist in internationalen Wasserprojekten und als Berater für verschiedene Organisationen tätig.