AMNESTY: Was ist gemeint, wenn wir von der sozialen Verantwortung der Unternehmen sprechen?
Guido Palazzo: In einer sich globalisierenden Weltordnung reduzieren sich die Möglichkeiten nationalstaatlicher Regierungen, global tätige Unternehmen zu regulieren und zu kontrollieren. Unternehmen sind global, Regierungen national. Zudem operieren multinationale Unternehmen mit ihren Wertschöpfungsketten verstärkt in Regionen mit schwachen, korrupten und repressiven Regierungen. In vielen Fällen ist kein politischer Akteur mehr vorhanden, der in der Lage oder willens ist, Menschenrechtsverletzungen bei der Produktion von Gütern zu verhindern. Daher geraten Unternehmen verstärkt unter Druck, selbst die Verantwortung für Menschenrechte entlang ihrer Wertschöpfungsketten zu übernehmen. Corporate Social Responsibility (CSR), soziale Unternehmensverantwortung, bedeutet heute daher vor allem, dass Unternehmen alle sozialen und ökologischen Nebenwirkungen ihrer Wertschöpfung in den Griff bekommen müssen. Und dies ganz im Sinne des hippokratischen Eides: Primum non nocere. Zuerst einmal kein Leid zufügen.
International tätige Unternehmen mit Sitz in der Schweiz, wie Roche, Nestlé oder Trafigura, geraten wegen umstrittener Geschäftsaktivitäten immer wieder in die Schlagzeilen. Können Weltkonzerne tun, was sie wollen?
Wie gesagt, besteht das Dilemma heute darin, dass Unternehmen global operieren, Gesetzgeber aber nationalstaatlich in ihrem Einfluss begrenzt sind. Der globalen Unternehmensmacht steht daher kein politisches Äquivalent gegenüber. Dass Unternehmen aber trotzdem nicht machen können, was sie wollen, verdanken wir dem Engagement zivilgesellschaftlicher Akteure wie Amnesty International, die Fehlverhalten offenlegen und das öffentliche Bewusstsein dafür schärfen. Grund zu ein wenig Optimismus gibt, dass multinationale Unternehmen damit beginnen, sich auf Kontrollen durch unabhängige NGOs und Multistakeholder-Initiativen einzulassen. Die Ankündigung von Nestlé, zukünftig für das Thema Kakao mit der Fair Labor Association zusammenzuarbeiten, ist beispielsweise ein wichtiges Signal.
Verschiedene Unternehmen haben sich einen Verhaltenskodex gegeben. Führt das wirklich dazu, dass weniger Menschenrechte verletzt werden?
Kodizes sind ein wichtiges Element, aber sie reichen nicht, um Menschenrechte in Wertschöpfungsketten zu schützen. Solange Unternehmen fortfahren, enormen Zeit- und Kostendruck auf ihre Zulieferer auszuüben, sind diese Zulieferer immer dem Dilemma ausgesetzt, dass sie sich an soziale und ökologische Standards halten sollen, die sie sich aber eigentlich nicht leisten können. Umso wichtiger sind meines Erachtens Kontrollen und Audits durch unabhängige Akteure und – vor allem! – die Förderung des gewerkschaftlichen Engagements von Arbeiterinnen und Arbeitern. Arbeiter, die ihre Rechte kennen und sich selbst organisieren können, sind eher in der Lage, die eigenen Rechte zu verteidigen.
Verhindert die weltweite Konkurrenz Fortschritte im Bereich der sozialen Unternehmensverantwortung?
Fakt ist, dass wir in eine neue Phase kolonialistischer Ausbeutung eintreten, in der die Ausbeuter nicht mehr unbedingt westliche Unternehmen sind, sondern vor allem chinesische. Während westliche Unternehmen relativ gut von NGOs in ihren Aktivitäten in Afrika überwacht werden, wissen wir fast nichts über die chinesischen Unternehmen und ihre Aktivitäten. Hier besteht enormer Handlungsbedarf. Immer wenn ein westlicher Konzern aufgrund öffentlichen Drucks eine Konfliktzone verlässt, kann man sicher sein, dass ein chinesisches Unternehmen nachrückt. Dies führt nicht wirklich zu einer Verbesserung der Situation.
Warum können internationale Unternehmen mit Sitz in der Schweiz nicht für Menschenrechtsverletzungen vor Gericht gebracht werden, die ihre Tochterfirmen im Ausland begehen?
Das Internationale Recht wurde festgelegt für den Umgang der Nationalstaaten untereinander. Private Akteure wie Unternehmen kommen darin gar nicht als Zielgruppe vor. Ein global aktives Unternehmen für die Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen irgendwo in den Tiefen seiner Wertschöpfungskette zu verklagen, ist heute fast nicht möglich. Gesetze wie der Alien Tort Claims Act in den USA, der es ermöglicht, auch nicht-US-amerikanische Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen zu verklagen, sind leider die Ausnahme. Umso wichtiger scheint mir, dass die Regierungen der Länder, in denen die multinationalen Konzerne ihren Sitz haben, juristische Instrumente entwickeln, um jene dazu zu zwingen, Menschenrechtsverletzungen in ihren globalen Aktivitäten zu vermeiden.
Werden mit der sozialen Verantwortung der Unternehmen auch die Staaten in die Pflicht genommen?
Absolut. Seit Ende der 80er-Jahre lässt sich beobachten, dass die global sich öffnende Regulierungslücke verstärkt durch Soft-Law-Regulierung, also Selbstregulierung von Unternehmen in Zusammenarbeit mit NGOs, ersetzt wird. Solche Initiativen (z.B. Fair Labor Association, Forest Stewardship Council) sind wichtig, aber besser wäre es natürlich, wenn man ein global wirksames Hard Law zur Verfügung hätte. Dazu bedarf es der globalen Zusammenarbeit nationaler Regierungen. Dies zu fordern und zu fördern ist wichtig, aber es ist unrealistisch zu glauben, eine solche sanktionsbewehrte Regulierung sei bald schon zu erreichen. Daher bleibt Selbstregulierung ein zentraler Pfeiler globaler Regierungsführung.
Opfer von Menschenrechtsverletzungen können nur gegen lokale Tochtergesellschaften klagen, und dies nur vor Gerichten in denjenigen Ländern, in denen die Verstösse stattgefunden haben. Was hat das für Konsequenzen?
In global vernetzten Produktionsprozessen ist es sehr schwer, juristisch zu bestimmen, wer welche Verantwortung trägt. In der Regel entsteht Unrecht aus dem Zusammenwirken von Akteuren, die nicht unbedingt willentlich zu diesem Unrecht beitragen. Dazu kommt, dass Menschenrechtsverletzungen in der Regel dort stattfinden, wo lokale Regierungen und Gerichte entweder nicht in der Lage oder nicht willens sind, sich mit dem Leid der Opfer zu beschäftigen. Wo politische und juristische Entscheidungen durch Korruption verzerrt werden oder in repressive Kontexte eingebettet sind, kommen Opfer über lokale Prozesse in der Regel nicht sehr weit.
Welche Reformen braucht es in der Schweiz?
Die Schweiz muss die rechtliche Situation schaffen, dass Schweizer Unternehmen auch dann für Menschenrechtsverletzungen in Haftung genommen werden können, wenn diese ausserhalb der Schweiz geschehen.
In welchen Bereichen spielt die Schweiz eine bedeutende Rolle für die Regulierung der Aktivitäten von internationalen Unternehmen?
Man sollte sich nicht darüber täuschen: Selbstregulierung hat Grenzen. Eine der zentralen Diskussionen der kommenden Jahre wird es daher sein, inwieweit Regierungen die globalen Aktivitäten der in ihrem Einflussbereich eingetragenen Unternehmen über nationale Gesetze beeinflussen können. Die Diskussion hat in der Schweiz begonnen, wir sind aber erst am Anfang. Der Druck von Amnesty International auf die politischen Akteure in der Schweiz ist dabei sehr wichtig.
John Ruggie, der Uno-Sonderberichterstatter für Unternehmen und Menschenrechte, hat Leitprinzipien für eine bessere Regulierung formuliert. Was halten Sie von diesen Empfehlungen?
Einerseits lässt sich sagen, dass Ruggies Vorschläge nicht über ein Minimum hinausgehen. Sie verlangen, dass Unternehmen Menschenrechte respektieren, sie verneinen aber die Notwendigkeit, dass Unternehmen eine aktivere Rolle beim Schutz von Menschenrechten spielen. Ich halte das für falsch und bedauerlich. Wir waren da schon einmal viel weiter – etwa zur Zeit der Apartheid in Südafrika. Andererseits muss man berücksichtigen, dass die in der Uno versammelten Regierungen einem weitergehenden Vorschlag vermutlich ihre Zustimmung verweigert hätten. Mehr war vielleicht nicht drin. Das Gute ist, dass auch die Minimalversion eine Eigendynamik entwickelt, die das Thema Menschenrechte und multinationale Unternehmen weiter vorantreibt. Sowohl im CSR-Engagement der EU als auch in den OECD-Richtlinien gibt es Veränderungen in die richtige Richtung, die vermutlich ohne Ruggie so nicht gekommen wären.
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von März 2012
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion