«Das Einzige, was wir Sahraouis noch brauchen, ist die Freiheit.» Mohamed Saleh* räuspert sich und sagt mit einem Blick über die Lehmhütten und Stoffzelte des Flüchtlingslagers Smara: «Das Leben hier ist hart. Es erinnert einen jeden Tag daran, dass dies eigentlich nicht unser richtiges Zuhause ist.» Der damals drei Monate alte Mohamed Saleh ist 1978 mit seiner Tante vor den marokkanischen Napalm- und Phosphorbomben aus der Westsahara ins algerische Exil geflüchtet. Seine Mutter war wegen Komplikationen bei der Geburt zu schwach für die Reise und flüchtete mit ihrem Mann nach L’ayoun, in die Hauptstadt der von Marokko besetzten Westsahara. Der unterdessen studierte Journalist wuchs ohne seine Eltern in einem der vier Flüchtlingslager in Westalgerien auf, getrennt durch einen 2700 Kilometer langen, mit Minenfeldern flankierten, von Marokko quer durch die Wüste gebauten Sandwall. Vor drei Jahren sah er seine Eltern zum ersten Mal, als er im Rahmen des Fami-lien-be-suchs-programms an der Reihe war, mit dem kleinen Propellerflugzeug der Uno-Flüchtlingsorganisation UNHCR in die besetzten Gebiete zu fliegen.
Mit gutem Grund behaupten die Sahraouis immer wieder, sie seien die bestorganisierten Flüchtlinge der Welt. Die 1973 gegründete Frente Polisario, die Volksfront zur Befreiung der beiden Westsahara-Regionen Saguia al-Hamra und Rio de Oro, stellt die Exilregierung und ist somit die politische Vertretung der Sahraouis. Nebst Armee, Polizei und Justiz gibt es in den Flüchtlingslagern auf algerischem Boden ein funktionierendes Bildungs- und Gesundheitssystem. Die neun Jahre Grundschulunterricht sind gratis und die Klassen gemischt. Den besten Schülern und Schülerinnen stehen Studienmöglichkeiten in Algerien, Kuba und Spanien offen. Strom, fliessendes Wasser und geteerte Strassen aber fehlen in den Lagern: «Wir wollen nicht in Infrastruktur investieren, die wir dann zurücklassen müssen», erklärt Mohamed Saleh. Man habe natürlich niemals damit gerechnet, dass man 36 Jahre im Exil verharren würde. Die Grundnahrungsmittel der Flüchtlinge sollten vom UNHCR und dem Welternährungsprogramm sowie der EU-Organisation ECHO gewährleistet werden. Wegen der schrumpfenden internationalen Hilfe werden die Zahlungen von Auslandsahraouis oder von befreundeten Familien, vor allem aus Spanien, immer wichtiger.
Ein Pass, kein Land
Die Frente Polisario rief 1976 die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) aus. Alle vier Jahre wird die politische Vertretung gewählt. Rund 55 Länder, vorwiegend afrikanische und lateinamerikanische Staaten, unterhalten diplomatische Beziehungen mit der DARS. Die Sahraouis reisen mit sahraouischem Pass. Fehlt also nur noch das Stück Land aus Sand, Fels und Geröll, riesigen Phosphatvorkommen, unterirdischen Süsswasservorkommen und einer fisch-reichen Atlantikküste, auf das auch Marokko Anspruch erhebt.
Die von Marokko besetzten Gebiete – zwei Drittel der Westsahara – sind im Widerspruch zu internationalem Recht unter marokkanischer Verwaltung (siehe Kasten). Das besetzte Gebiet umfasst die Küstengebiete, alle Städte und die Phosphatminen von Boucraa. Im Gegenzug kontrolliert die DARS das wirtschaftlich weitgehend unbedeutende Drittel Wüsten- und Steppengebiet entlang der Ostgrenze zu Algerien und Mauretanien. Nach jahrelangem Krieg delegierte die Uno 1991 eine Friedenstruppe, die Minurso, in die Westsahara mit dem Auftrag, den Waffenstillstand zu kontrollieren sowie ein Referendum durchzuführen und somit das Recht der Sahraouis auf Selbstbestimmung durchzusetzen. Die Abstimmung über die Zukunft des Landes – Marokko oder Unabhängigkeit – sollte spätestens im Februar 1992 stattfinden. Sie steht bis heute aus. Die Mi-nurso scheiterte sowohl am Widerstand Marokkos mit seiner Strategie, das Referendum hinauszuzögern, wie auch an Uno-internem Widerstand. Die Europäische Union, allen voran Frankreich und Spanien, spielen in diesem Konflikt keine glorreiche Rolle. Während des bewaffneten Konflikts rüsteten sie die marokkanische Armee entscheidend auf, und Frankreich setzte sich im Uno-Sicherheitsrat stets für seinen Wirtschaftspartner ein.
Keine Jobs
In der unwirtlichen Gegend Westalgeriens, wo rund 200000 Sahraouis auf vier Flüchtlingsstädte verteilt leben, sieht man nur selten einen verdorrten Stachelstrauch oder eine verirrte Akazie, die sich aus dem harten Steinboden kämpfte. Während im Winter die Kälte bis tief in die Knochen kriecht, erreichen die Temperaturen im Sommer Höchstwerte von bis zu 57 Grad Celsius. Trotzdem trifft man fast ausschliesslich auf fröhliche Leute, die sich tagtäglich mit ihrem Schicksal, so gut es geht, arrangieren. Zentral ist für sie das Leben in der Gesellschaft und der sahraouischen Kultur. «Ich war schon einige Male in Spanien bei einer Familie, aber immer freute ich mich, wieder zurückzukommen. Ich mag, wie es hier ist: Dass man bei seinen Freunden und Nachbarn, ohne abmachen oder klingeln zu müssen, ein- und ausgehen kann», sagt Baite. Der 14-Jährige gehört zur zweiten Generation, welche in den Lagern aufwächst. Auf die Frage, ob ihm etwas fehle, antwortet er: «Ich bin hier bei meiner Familie, das ist das Wichtigste.» Der zehn Jahre ältere Brahim sieht dies anders. Für das Budget der Familie ist er bereits mitverantwortlich, findet jedoch keine Arbeit: «Es gibt hier fast keine Jobs. Manchmal kann man mithelfen, ein Haus zu bauen, einige finden Arbeit im Markt.» Wie lange die Flüchtlinge noch im Ungewissen leben, ist völlig offen.
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von März 2012
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion