Wer sich heute für die Einhaltung der Menschenrechte engagiert, weiss, wie wichtig Online-Netzwerke wie Facebook und Twitter geworden sind. Die Proteste in Nordafrika und im Nahen Osten haben die Rolle der neuen Medien vor Augen geführt. Repressive Staaten möchten das Netz aber unter ihre Kontrolle bringen. Wie China investieren sie Millionen in modernste Überwachungs- und Filtertechnologien.
Selbst in demokratischen Ländern sollen die Spielregeln im Internet angepasst werden. Seit 2007 ist ein kleiner Kreis von Industriestaaten daran, schärfere Regeln für die Durchsetzung von Patent-, Urheber- und Markenrechten auszuarbeiten. Am Verhandlungstisch für das Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen (ACTA) sass – neben der EU, Japan, Australien und den USA – auch die Schweiz. Sie hat das Abkommen bisher weder unterschrieben noch ratifiziert.
Anfang Jahr haben weltweit Hunderttausende Menschen auf der Strasse gegen ACTA demonstriert. Den Protesten gemeinsam war die Angst, dass der Handelsvertrag negative Auswirkungen für die Menschenrechte im Internet haben könnte. Betroffen davon sind das Recht auf Achtung des Privatlebens, die Informationsfreiheit und die Meinungsfreiheit.
Auch Amnesty International teilt die Kritik. Die Menschenrechtsorganisation hat den Vertragstext eingehend geprüft und empfiehlt den Regierungen und Parlamenten, ACTA nicht zu unterzeichnen.
Forcierte Überwachung
Der berechtigte Schutz von geistigem Eigentum dürfe nicht auf Kosten der grundlegenden Menschenrechte gehen. «Internetanbieter würden dazu ermutigt, Kunden zu überwachen. Das wäre eine gravierende Verletzung der Privatsphäre», erklärte Widney Brown, Chefjuristin von Amnesty International. Zudem sei der Vertragstext sehr vage formuliert und lasse den Staaten viel zu grossen Handlungsspielraum. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist die Macht des geplanten ACTA-Komitees, das Standards festlegen und den Beitritt neuer Länder verhandeln könnte.
Das Abkommen betrifft nicht nur das Internet, sondern auch den ganz normalen Warenverkehr. Diesbezüglich befürchten entwicklungspolitische Organisationen wie die Erklärung von Bern, dass Pharma- und Saatgutkonzerne ACTA missbrauchen könnten. Zollbehörden hätten die Möglichkeit, Medikamente zu beschlagnahmen, falls sie Markenprodukten zu ähnlich sehen. Die Versorgung armer Länder mit günstigen Generika wäre gefährdet.
Die Schweiz hat bis Mai 2013 Zeit, ACTA zu unterschreiben. Der Bundesrat teilte im vergangenen Mai mit, dass er vorerst auf eine Unterzeichnung verzichte, bis «genügend Entscheidelemente» vorliegen würden. Andere Länder, etwa Deutschland, haben den Vertrag auch auf Eis gelegt. Der Europäische Gerichtshof prüft im Moment die Vereinbarkeit von ACTA mit dem EU-Recht. Das Urteil wird mit Spannung erwartet.
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von Juni 2012
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion