Probleme mit der Einhaltung von Menschenrechten gibt es in Ungarn einige – insbesondere seit im Juni 2010 die rechtskonservative Regierung von Premierminister Viktor Orban an die Macht kam. Sie kann mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament Verfassungsänderungen im Alleingang durchsetzen. Die kleine ungarische Sektion von Amnesty International hat denn auch genug zu tun mit Themen wie den Attacken gegen Roma, der Diskriminierung von Schwulen und Lesben oder einem neuen Gesetz, das Obdachlosigkeit strafbar macht. «In letzter Zeit jedoch sehen wir uns auch immer wieder gezwungen, zur Situation der Medien Stellung zu nehmen – obwohl dies eigentlich unsere Möglichkeiten übersteigt», sagt Orsolya Jeney, die Geschäftsleiterin von Amnesty Ungarn.
Als Ungarn am 1. Januar 2011 die EU-Ratspräsidentschaft übernahm, traten am gleichen Tag neue repressive Mediengesetze in Kraft. So wurde die der Regierung nahestehende Sonderaufsichtsbehörde NMHH geschaffen, die keiner demokratischen Kontrolle untersteht und Lizenzen vergeben kann. Einzelne Medien gerieten unter Druck, unliebsame Journalisten wurden entlassen oder übten häufiger als früher Selbstzensur aus Angst vor den neuen Bussen wegen «Beleidigung der öffentlichen Moral». Die Europäische Kommission protestierte gegen das neue Gesetz nur insoweit, dass einige technische Änderungen gemacht werden mussten. Dem oppositionellen Sender Klubradio wurde im Dezember 2011 die Erneuerung der angestammten Sendelizenz verwehrt und stattdessen wurde ein Radio zugelassen, das über 60 Prozent Musik spielt. Im vergangenen März entschied das Berufungsgericht in Budapest allerdings, dass diese Vergabe widerrechtlich gewesen sei.
Sowieso findet auf Ebene der ungarischen Justiz ein Seilziehen statt. Denn das ungarische Verfassungsgericht liess Ende 2011 Passagen der neuen Mediengesetze streichen. Doch Anfang 2012 trat eine neue Verfassung in Kraft, welche dem Verfassungsgericht weniger Kompetenzen zugesteht. Auch die BürgerInnen haben weniger Spielraum, selbst an das Verfassungsgericht zu gelangen.
Allmächtige Behörde
«Die neuen Mediengesetze bringen nichts, sind unnötig restriktiv und eine Gefahr für die Medienfreiheit in Ungarn», kritisiert Amnesty-Geschäftsleiterin Jeney. Insbesondere die grosse Macht der neuen Aufsichtsbehörde könne für die Meinungsfreiheit ein Risiko darstellen. «Die Mitglieder dieser Behörde haben ihr Amt während neun Jahren inne – so lange wie sonst nirgends in Europa», doppelt Dorottya Atol nach, Campaignerin bei Amnesty Ungarn. «Zudem werden sie vom Premierminister und von einer Ad-hoc-Kommission des Parlaments ernannt.» Amnesty International forderte Anfang Jahr die europäische Kommission auf, sich dafür einzusetzen, dass die ungarischen Mediengesetze und die neue Verfassung den Menschenrechtsstandards der EU entsprechen sollen. Dass die neuen Mediengesetze die europäischen Normen verletzen und die Aufsichtsbehörde in Europa einmalig allmächtig ist, belegte auch eine Studie der Central European University in Budapest.
Proteste vor staatlichem TV
Der Journalist Balazs Nagy-Navarro, ehemaliger Präsident von Amnesty Ungarn, kennt die Lage der Medien aus eigener Erfahrung. Er arbeitete beim staatlichen Fernsehen MTV und ist Leiter einer Journalistengewerkschaft. Zusammen mit einer Kollegin trat Nagy-Navarro im Dezember 2011 in einen Hungerstreik, nachdem in einem Fernsehbericht das Gesicht eines von der Regierung ungeliebten Richters wegretuschiert worden war. Zwar hatte der Vorfall für zwei MTV-Angestellte Konsequenzen, doch aus Sorge um die Entwicklung insbesondere des öffentlich-rechtlichen Fernsehens gründete Nagy-Navarro die Bewegung «Saubere Hände». Sie setzt sich für Meinungsfreiheit, die Unabhängigkeit der Medien und die Wiederherstellung der alten Verfassung ein. «Seit im Januar 2011 die beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehsender MTV und Duna TV zu Mtva fusionierten, wurden rund tausend unliebsame Journalisten entlassen, und die Leitung der neuen Fernsehanstalt steht unter dem direkten Einfluss von Orbans Leuten», kommentiert Nagy-Navarro den Umbau des staatlichen Fernsehens, das schon seit Jahren im Verruf stand, von der jeweiligen Regierung abhängig zu sein. «Mehr denn je betreiben gerade die öffentlich-rechtlichen Medien Regierungspropaganda.» Dass Nagy-Navarro und seine Bewegung seit Dezember ohne Unterbruch mit Wohnwagen direkt von dem Mtva-Gebäude Präsenz markieren, berichten zwar internationale und nationale Medien, nicht aber das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Und als im Januar Zehntausende von Bürgerinnen und Bürgern gegen die neue Verfassung protestierten, zeigte das Fernsehen eine von der Polizei abgeriegelte leere Strasse mit der Erklärung, der Protest finde kaum Anhänger. Unter dem herrschenden Druck sei auch die Selbstzensur unter den JournalistInnen grösser geworden: «Jeder hat Angst, seinen Job zu verlieren», sagt Nagy-Navarro.
Er selbst verlor nach seinem Hungerstreik Ende Dezember seine Stelle beim Fernsehen und ging vor Gericht. Derzeit ist dem Gewerkschaftsführer sogar der Zutritt zu seinem ehemaligen Büro bei Mtva verboten, wo sich alle seine Gewerkschaftsunterlagen befinden. «Unter diesen Umständen können wir unsere Arbeit nicht ausüben und keine hängigen Gewerkschaftsfälle bearbeiten», kritisiert er. Trotzdem sieht Balazs Nagy-Navarro im Ganzen auch positive Aspekte. Die jüngsten Ereignisse hätten die Menschen dazu bewegt, endlich auf die Strasse zu gehen: «Ohne diesen Druck wäre der ungarische Präsident Pal Schmitt wegen seines Plagiats niemals zurückgetreten.» Auch Amnesty-Chefin Orsolya Jeney stellt fest, dass die Bevölkerung sich zunehmend mobilisieren lasse und NGOs stärker an die Öffentlichkeit treten würden. Sie betont: «Die ungarische Zivilgesellschaft ist endlich aufgewacht.»
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von Juni 2012
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion