MAGAZIN AMNESTY ICC Runder Geburtstag in Den Haag

Der Internationale Strafgerichtshof wird zehn Jahre alt. Für die Opfer von manchen der schlimmsten Verbrechen auf der Welt hat sich in dieser Zeit einiges getan. Zeit für einen kritischen Blick zurück und eine Prognose der künftigen Herausforderungen.

Es gibt viel zu feiern am zehnten Geburtstag des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court – ICC) am 1. Juli 2012. Schon nur seine Gründung hat der Hoffnung auf Gerechtigkeit für die Opfer von Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Auftrieb gegeben. Wer immer ein solches Verbrechen begehen will, muss es sich nun zweimal überlegen. Denn er könnte für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden.

Im April forderte die Kampagne «Kony 2012» die Verhaftung des Uganders Joseph Kony wegen Verbrechen 
gegen die Menschlichkeit und Kriegs-
verbrechen. Die enorme öffentliche Aufmerksamkeit für diese Kampagne zeigt, dass der ICC nun global anerkannt und respektiert wird.

Der ICC sprach sein erstes Urteil am 14. März: Er verurteilte Thomas Lubanga dafür, dass er in der Demokratischen Republik Kongo (DRK) Kindersoldaten rekrutiert und eingesetzt hat. Heute untersucht der Gerichtshof Verbrechen in der Zentralafrikanische Republik, der Côte d’Ivoire, der DRK, in Kenia, Libyen, der sudanesischen Region Darfur und in Uganda. Er klärt ausserdem ab, ob er neue Untersuchungen wegen mutmasslicher Verbrechen in Ländern wie Afghanistan, Kolumbien, Georgien, Honduras und Nigeria eröffnen soll.

Amnesty International begann 1994, für einen Internationalen Strafgerichtshof zu lobbyieren. Die Grundlage für den ICC, das sogenannte Römer Statut, das den Gerichtshof und seine Arbeit definiert, wurde im Juli 1998 angenommen. Amnesty-Mitglieder drängten dann – wie Tausende anderer Organisationen auch – darauf hin, dass rasch 60 Regierungen das Statut ratifizierten. Denn diese Marke galt es zu knacken, damit der ICC seine Arbeit aufnehmen konnte. In nur vier Jahren wurde dieses Ziel erreicht. 2002 wurde die ehemals utopisch anmutende Idee von einem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Realität. Heute haben 121 Länder das Römer Statut ratifiziert.

Nur Afrika im Visier?

Doch es warten noch immer genügend Herausforderungen. Nach wie vor gibt es zahllose Verbrechen, die unter die Zuständigkeit des ICC fallen. Der Gerichtshof sollte generell in der Lage sein, alle Verbrechen überall auf der Welt zu untersuchen. Doch das ist schwierig; insbesondere, weil der ICC zunehmend mit finanziellen Problemen kämpft.

Dass der Gerichtshof sich bisher auf Afrika konzentriert hat, hat ebenfalls kritische Stimmen geweckt und ihm den Vorwurf der Einseitigkeit eingetragen. Bei sechs der sieben afrikanischen Länder, zu denen der ICC aktiv ist, haben die Regierungen dieser Länder selber oder der Uno-Sicherheitsrat die Untersuchungen initiiert. Aber es bleibt die Frage, 
warum der Gerichtshof noch nicht gehandelt hat bezüglich Afghanistan, Kolumbien, Georgien oder Honduras. Viele Verbrechen finden in Ländern statt, die sich dem Internationalen Strafgerichtshof nicht verpflichtet haben. Der Uno-Sicherheitsrat könnte solche Gräueltaten an den ICC-Chefankläger überweisen, aber er hat in der Vergangenheit seine diesbezügliche Macht politisch sehr wählerisch ausgeübt: Er überwies Darfur und Libyen an den ICC; Syrien bis jetzt aber beispielsweise nicht.

Frei trotz Haftbefehl

Von den 17 Leuten, für die der Gerichtshof einen Haftbefehl ausgestellt hat, wurden bis anhin nur 6 verhaftet und nach Den Haag überstellt. Dem sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir werden Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in Darfur vorgeworfen. Trotzdem konnte er in zahlreiche Länder reisen, ohne dass die dortige Polizei ihm Handschellen angelegt hätte. Der ICC ist abhängig davon, dass die nationalen Behörden ihrer Verpflichtung nachkommen, Verdächtige zu verhaften. Doch viele Regierungen drücken sich davor.

Der Gerichtshof steht auch vor internen Herausforderungen. Seine aktuelle Strafverfolgungsstrategie schränkt die Zahl und das Ausmass der Fälle enorm ein. Das führt zu verschiedenen Problemen. Der Chefankläger wurde beispielsweise dafür kritisiert, dass er im Lubanga-Fall nicht noch weitere Delikte untersucht hat, etwa sexuelle Gewaltverbrechen in der DRK. Sein Vorgehen verhinderte, dass weitere Opfer vor dem ICC Gerechtigkeit erlangt haben. Es ist klar: Geschehen Verbrechen in einem solch grossen Ausmass wie in der DRK, kann sich der Internationale Strafgerichtshof nie mit jedem einzelnen Vorfall beschäftigen. Dennoch ist es wichtig, dass er Vorwürfe in einer Art und Weise untersucht, die dem allgemeinen Muster der Verbrechen entspricht.

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Opfer entschädigen

Amnesty International arbeitet mit dem ICC, mit Regierungen und Partnern zusammen, um diese Schwierigkeiten anzugehen. Die Organisation macht Druck, damit noch mehr Staaten das Römer Statut ratifizieren und damit Regierungen den ICC vernünftig finanzieren sowie Verdächtige verhaften lassen. Vom Uno-Sicherheitsrat fordert Amnesty, dass weitere Verbrechen, wie zum Beispiel in Syrien, an den Gerichtshof überwiesen werden. Und die Organisation gibt Anstösse dazu, wie der ICC seine Strategie der Strafverfolgung verbessern könnte, damit die Opfer wirklich Gerechtigkeit erlangen können.

Im Nachgang seines ersten Urteils erwägt der ICC nun, ob er Entschädigungen für die Opfer anordnen soll. Diese Entschädigungen sollen ihnen helfen, ein neues Leben zu beginnen. Sie könnten das Leben von Menschen, die schreckliche Verbrechen erlitten haben, nachhaltig beeinflussen. Doch es ist ein sauberes Vorgehen notwendig, damit es keine Enttäuschungen für Opfer und ihre Angehörigen gibt. Lubanga hat keinen Rappen. Jegliche Entschädigung für seine Opfer müsste also durch den Opferfond des ICC geleistet werden. An-lässlich des zehnten Geburtstags des 
Internationalen Strafgerichtshofs ruft Amnesty Regierungen weltweit auf, diesen Fond zu unterstützen.

Von Jonathan O’Donohue, juristischer Berater im Internationalen Sekretariat von Amnesty International in London.

 


Glossar

Das humanitäre Völkerrecht definiert Regeln, die in Zeiten eines zwischenstaatlichen Konfliktes oder anderer bewaffneter Konflikte sowohl Zivilpersonen als auch ehemalige Kombattanten schützen und die Mittel der Kriegsführung begrenzen sollen.

Unter Kriegsverbrechen versteht man schwere Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht während eines bewaffneten internationalen oder nationalen Konflikts wie vorsätzliche Tötung, die Behinderung humanitärer Hilfe oder den Einsatz verbotener Waffen.

Als Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden gross angelegte oder systematische Angriffe gegen die Zivilbevölkerung wie vorsätzliche Tötung, Folter, Vergewaltigung oder Zwangsprostitution bezeichnet.

Ein Völkermord liegt laut Völkerstrafrecht dann vor, wenn jemand Handlungen wie beispielsweise Tötungen begeht und dabei beabsichtigt, «eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören».

Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von Juni 2012
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion