«Ich bin mit einer Freundin unterwegs, hat Mónica gesagt, als ich sie das letzte Mal auf ihrem Handy erreichte. Später hat sie nicht mehr reagiert. Das ist jetzt drei Jahre her.» Olga Esparzas Stimme droht zu versagen, als sie von der verschwundenen Tochter erzählt. So oft hat sie schon davon berichtet: der Polizei, Anwälten, Reportern – und anderen Eltern, die genauso verzweifelt auf der Suche nach ihren Töchtern sind. «So etwas verändert das Leben in einem einzigen Moment», erklärt Olga Esparza und streicht über die Plüschtiere auf dem Bett ihrer Tochter. Das Zimmer ist unverändert. «Seit Mónica verschwunden ist, durchlebe ich eine nicht enden wollende Agonie. Mit einer verschwundenen Tochter zu leben, ist viel schlimmer, als um eine tote zu trauern.» Doch die Hoffnung hat sie nie aufgegeben: «Vielleicht lebt meine Tochter noch irgendwo versklavt in einem Bordell. Das wäre traurigerweise die einzige Möglichkeit, sie jemals lebend wiederzusehen.»
Olga Esparza wird vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Eine Mutter berichtet von ihrer Tochter, die seit vorgestern verschwunden ist. «Als Mónica nicht nach Hause kam, versuchten wir bei der Polizei Anzeige zu machen», erinnert sich Ehemann Ricardo Alanis. «Doch man erklärte uns, dass für eine Suche ein Verbrechen vorliegen müsste.» Ricardo Alanis rät Familien mit heranwachsenden Töchtern wegzuziehen. «Denn in Ciudad Juárez verschluckt die Erde hübsche arme Mädchen.»
Daran erinnert ein gigantisches Denkmal zwischen neu gebauten Hotels und Shoppingcentern. Dort, wo vor zehn Jahren die Leichen von acht ermordeten Frauen in einem Baumwollfeld entdeckt wurden, erstreckt sich heute ein Gedenkort. Damit ist eine der Auflagen erfüllt, die der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH) dem mexikanischen Staat nach seiner Verurteilung im Jahr 2009 stellte.
50 nicht identifizierte Leichen
Doch Imelda Marrufo vom Netzwerk der Frauen von Ciudad Juárez kann das Schuldbekenntnis nicht zufrieden stellen. Mexiko simuliere im zweiten Jahr die Erfüllung der Auflagen des Gerichtshofs, konstatiert die Rechtsanwältin. «Es werden einfach keine effizienten und unverzüglichen Nachforschungen angestellt, wenn eine junge Frau verschwindet. Hingegen werden Frauenmorde von den Institutionen vertuscht.» So wurde im März bekannt, dass im Leichenschauhaus von Ciudad Juárez über 50 Frauenleichen liegen, die noch nicht identifiziert worden sind. Die Staatsanwaltschaft des Bundesstaates Chihuahua gibt an, nicht darüber informiert gewesen zu sein. Imelda Marrufo schüttelt ungläubig den Kopf. «Währenddessen gehen die Familien durch die Hölle.» Abgesehen von der Komplizenschaft korrupter Funktionäre und Politiker benennt sie Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen als strukturelle Hintergründe der Verbrechen. «Frauenmorde finden in einer Kultur des Machismus und Sexismus statt – und diese kostet Leben.»
Gustavo de la Rosa, Ombudsmann für Menschenrechte des Bundesstaates Chihuahua, beunruhigt, dass auch die Aktivistinnen gegen Frauenmorde attackiert werden. «Im Jahr 2011 wurden allein drei von ihnen umgebracht. Norma Andrade, Gründerin der renommierten Mütterorganisation Unsere Töchter zurück nach Hause, überlebte Ende des Vorjahres schwerverletzt ein Attentat.» Nach ihrem vorsorglichen Umzug nach Mexiko-Stadt wurde Norma Andrade im Februar erneut von einem Bewaffneten angegriffen. Amnesty International veröffentlichte vier «Urgent Actions», um Sicherheit für die Aktivistin zu fordern.
Trotz der Drohungen tritt die Zivilgesellschaft den Auswüchsen des Drogenkrieges verstärkt entgegen. «Ohne das beispielhafte Engagement der Mütter von Ciudad Juárez wären NGOs heute längst nicht so politisiert, professionalisiert und gut vernetzt», konstatiert Leobardo Alvarado von der Internetzeitung CiudadJuarezDialoga. «In dieser Stadt sind Frauen nicht nur Opfer; sie sind vor allem Akteurinnen.»
Wie Abfall weggeworfen
Handeln ist auch bitter nötig. In den letzten 3 Jahren wurden in Ciudad Juárez mehr Frauenmorde verübt als in den 16 Jahren zuvor. Der Fund einer Frauenleiche ist fast alltäglich. Wie auch an diesem Morgen im Viertel Benito Juárez. Dort starren zwei Nachbarinnen auf die Tote, die keine fünfzehn Meter entfernt liegt. «Das ist doch Chayo», sagt die eine. Jetzt liegt sie tot auf einer staubigen Freifläche zwischen den Häusern. Genauso achtlos weggeworfen wie die Abfallsäcke neben ihr. Ihre Hände sind auf dem Rücken gefesselt, der Mund mit Klebeband zugeklebt.
«Nicht selten wird ein Frauenmord als Mord von Drogenkillern kaschiert», bemerkt Carmen de Luz Sosa, genannt Luci. Sie ist Polizeireporterin der Zeitung «Diario de Juárez». «Sicher ist, dass die Polizei dann keine Nachforschungen anstellt.» Und auch den Medienschaffenden fehle angesichts der unzähligen Toten oft die Zeit, genauer nachzufragen. Dann würde vorschnell von einem weiteren «Mord im Drogenmilieu» berichtet. «Manchmal werden Frauen gleich zweimal ermordet», urteilt Sosa selbstkritisch. «Einmal durch ihren Mörder; ein zweites Mal durch die Medien.»
Die Gewalt ist in Ciudad Juárez explodiert, seit Noch-Präsident Felipe Calderón im «Krieg gegen die Drogen» Militär und Bundespolizei entsandte. Im letzten Jahr wurden die mexikanischen Medien mit einem Abkommen verpflichtet, angesichts des Ausnahmezustandes staatstreu zu berichten. Der «Diario» gehörte zu der Handvoll Printmedien, die dies verweigerten. «Aber wir dürfen die Institutionen nicht zu direkt kritisieren», merkt Luci Sosa an. «Sonst heisst es sofort: Ihr seid von den Narcos gekauft.» Die ReporterInnen des «Diario» gerieten im für Medienschaffende brandgefährlichen Mexiko nicht selten zwischen die Fronten.
Luci Sosa startet den Wagen und fährt zum nächsten Tatort. Seit 22 Jahren arbeitet sie für ihre Tageszeitung. Trotz der bedrohlichen Lage habe sie nie daran gedacht, die Stadt zu verlassen, ins Exil zu gehen. «Ich fühle eine grosse Verantwortung, die Bewohner von Ciudad Juárez zu informieren, was um sie herum geschieht.» Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht, greift zu ihrem Notizblock und geht entschlossen auf einige Anwohner zu.
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von August 2012
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion