Mexikos Präsident Felipe Calderón hatte viel versprochen, als er nach seinem Amtsantritt 2006 die Armee gegen die Drogenkartelle mobilisierte. Er werde Schluss machen mit dem kriminellen Treiben der Mafia, erklärte der konservative Politiker. Und er werde dafür sorgen, dass alle Bürgerinnen und Bürger in Sicherheit leben könnten. Doch wenn der Staatschef nun im Dezember das Amt seinem Nachfolger übergibt, hinterlässt er einen vom Krieg gezeichneten Staat, in dem niemand mehr seines Lebens sicher sein kann. Mindestens 60000 Menschen wurden in den letzten sechs Jahren ermordet, 10000 sind verschwunden, Hunderttausende mussten ihre Heimat verlassen. Fast täglich tauchen zerstückelte Körper oder verscharrte Leichen auf. «Calderón hat in unverantwortlicher Weise einen Krieg angezettelt», kritisiert Pfarrer Miguel Concha vom mexikanischen Menschenrechtszentrum Fray Francisco de Vitoria. «Viele Menschen sterben, es gibt keine Strafverfolgung und der Drogenhandel geht weiter, als wäre nichts geschehen.»
Während Calderón regelmässig betont, die meisten Toten seien Mitglieder der Mafia und internen Auseinandersetzungen zum Opfer gefallen, sterben in Wahrheit immer mehr Unbeteiligte. So etwa jene 14 Jugendlichen, die im Januar 2010 während einer Party in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez von der Mafia niedergemetzelt wurden – die Killer hatten ihre Opfer verwechselt.
Bedrohte AktivistInnen
Die Mafia kennt keine Menschenrechte. Ihre Mitglieder foltern ihre Opfer oder entführen und töten MigrantInnen auf ihrem Weg in die USA. Sie vertreiben durch ihre gewalttätige Präsenz die Bewohnerinnen und Bewohner ganzer Dörfer, um dort in Zusammenarbeit mit lokalen Autoritäten illegal Holz zu schlagen, Opium anzubauen oder anderen Geschäften nachzugehen. Immer wieder trifft es auch soziale und indigene AktivistInnen, die sich gegen die Interessen der Mächtigen stellen. MenschenrechtsverteidigerInnen werden bedroht, terrorisiert oder ermordet. «2011 registrierten wir 206 solcher Angriffe, in den ersten vier Monaten dieses Jahres waren es 47», erklärt Alejandro Cerezo, dessen Komitee Cerezo die Attacken gegen MenschenrechtsverteidigerInnen untersucht. Einige mussten für ihren Einsatz ihr Leben lassen. So starben Aktivistinnen wie Marisela Escobedo oder Josefina Reyes, die sich in Ciudad Juárez für die Aufklärung der unzähligen Frauenmorde eingesetzt hatten.
Auch JournalistInnen, die kritisch über die Kartelle oder deren Kooperation mit korrupten Polizisten und Politikern berichten, laufen Gefahr, hingerichtet zu werden. Allein im Bundesstaat Veracruz starben in den letzten zwei Monaten fünf Pressevertreter, seit 2000 wurden nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission Mexikos (CNDH) 82 Medienschaffende ermordet. Viele Zeitungen haben deshalb ihre Berichterstattung über die Mafia und den Krieg eingestellt. Mexiko gilt als eines der gefährlichsten Länder für PressearbeiterInnen. Selbst kritische Blogger sind zur Zielscheibe geworden.
Kriminelle Sicherheitskräfte
Über die tatsächlichen Hintergründe der Angriffe auf JournalistInnen, Frauenrechtlerinnen oder soziale AktivistInnen ist wenig bekannt. Hinter den vielen Toten, die der sogenannte Drogenkrieg bereits gekostet hat, verschwindet das einzelne Opfer. «Da in den meisten Fällen erst gar keine juristischen Ermittlungen stattfinden, wissen wir weder, was genau passiert ist, noch wer die Täter sind», erklärt der Menschenrechtsverteidiger Edgar Cortez. Ausser Zweifel steht jedoch, dass oftmals staatliche Kräfte in die Taten verwickelt sind. Entweder agiert die Mafia gemeinsam mit Polizeibeamten und Soldaten oder PolitikerInnen nutzen schlichtweg die eskalierte Situation, um sich Oppositioneller zu entledigen, die ihnen schon lange ein Dorn im Auge sind. AktivistInnen der Friedensbewegung stellten fest, dass hinter einer deutlichen Mehrheit der bei ihnen gemeldeten 700 Fälle von Verschwindenlassen und Morden Soldaten oder Polizisten steckten. Der Krieg gegen die Kartelle, darin sind sich viele MenschenrechtsverteidigerInnen einig, ist längst zum Vorwand für die Repression gegen soziale Bewegungen geworden.
Auch die CNDH registrierte zahlreiche Anzeigen gegen staatliche Kräfte. Seit Beginn von Calderóns Amtszeit seien bereits 5176 Klagen gegen Armeeangehörige, Polizisten und Beamte eingegangen, informierte die Behörde im April 2012. In 113 Fällen spricht sie von Folter, unabhängige Menschenrechtsorganisationen gehen jedoch davon aus, dass nur ein geringer Teil der Opfer das Verbrechen anzeigen. Da nur wenige der bei der CNDH eingehenden Beschwerden zu einer Empfehlung für die Strafverfolger führen, fühlt sich die Regierung darin bestätigt, dass die Vorwürfe haltlos seien.
Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen machen jedoch gerade diese Straflosigkeit für die immer weiter eskalierende Gewalt verantwortlich. Korrupte Richter, Polizisten und andere Beamte seien dafür verantwortlich, dass über 98 Prozent der Verbrechen straflos geblieben seien. Und jeder nicht verurteilte Mord bereitet das Feld für den nächsten. Miguel Concha sieht im Fehlen von Ermittlungen zudem einen Freischein für repressive Politiker. «Wenn Menschenrechtsverletzungen nicht sanktioniert werden, ermuntert das die Behörden, willkürlich gegen die Gesellschaft vorzugehen», erklärt der Pfarrer.
Jugend ohne Perspektive
Nicht nur MenschenrechtsverteidigerInnen fordern nun, dass die Regierung die Soldaten endlich wieder in die Kasernen zurückzieht, um die Eskalation einzudämmen. Kaum jemand glaubt daran, dass dieser Krieg die Kartelle besiegen wird. Erfolgsmeldungen über die Beschlagnahme von Drogen oder die Verhaftung von Mafiabossen hält beispielsweise der Kriminalitätsexperte Edgardo Buscaglia für «reine Show». Um die Kartelle in den Griff zu bekommen, müssten deren illegale Gelder, die in legalen Firmen stecken, beschlagnahmt und die Vermögensverhältnisse aller hohen Politiker untersucht werden. Zudem verweist Buscaglia auf die schwierige Situation vieler jungen Menschen: «In Mexiko gibt es acht Millionen Kinder, die nicht zur Schule gehen, die auf der Strasse leben, Drogen konsumieren, gewalttätig werden und ihr Leben zerstören.» Der Staat müsse sich um eine Perspektive für diese Menschen kümmern, um sie nicht der Mafia zu überlassen, fordert er.
Eine grundlegende Umkehr im Sozial- und Bildungswesen, radikale Massnahmen gegen korrupte Beamte und Unternehmer sowie eine menschenrechtsorientierte Sicherheitspolitik – vom abtretenden Calderón sind solche Schritte nicht mehr zu erwarten. Im Gegenteil: Ende Juni bekräftigte er einmal mehr die Notwendigkeit des Krieges gegen die Kartelle. Noch vor einigen Jahren räumte er ein, der Hälfte der Polizisten sei nicht zu trauen. Nun erklärte er: «Wir haben eine Bundespolizei geschaffen, die alle Kapazitäten besitzt, um dem Verbrechen die Stirn zu bieten.» Einen Tag vorher lieferten sich Beamte dieser Einheit auf dem Internationalen Flughafen von Mexiko-Stadt untereinander ein Feuergefecht, bei dem drei Polizisten starben. Mindestens eine der beiden sich bekämpfenden Gruppen hatte für die Mafia gearbeitet.
Mexiko ist eine föderale Republik mit 114 Mio. EinwohnerInnen auf einer Fläche von knapp 2 Mio. km2 (Deutschland 82 Mio. auf 360000 km2). Neben der Amtssprache Spanisch sind 62 indigene Sprachen als Nationalsprachen anerkannt, der Anteil der indigenen Bevölkerung beträgt knapp 10 Prozent. Mexiko-Stadt gehört mit über 20 Mio. EinwohnerInnen zu den fünf grössten Städten der Welt.
Mexiko ist die vierzehntgrösste Wirtschaft der Welt, bei der Erdölproduktion liegt es auf Rang 6. Unter den 34 OECD-Staaten belegt Mexiko in Sachen sozialer Ungleichheit und Einkommensverteilung aber den vorletzten Platz. Über 50 Prozent der MexikanerInnen leben in Armut.
Mexiko ist in vielfältiger Weise mit den USA verbunden, mit denen es eine 3326 Kilometer lange Grenze verbindet:
Rund 80 Prozent der Exporte Mexikos gehen in die USA. Gut die Hälfe davon stammt aus über 3000 Maquilas. In diesen Montagebetrieben im Norden Mexikos, in denen rund 1,3 Mio. ArbeiterInnen für wenig Lohn und unter schlechten Bedingungen arbeiten, werden importierte Einzelteile zu Fertigwaren zusammengesetzt. Mexiko ist u. a. mittlerweile der grösste Autoproduzent Nordamerikas.
Rund 11 Mio. MexikanerInnen leben illegal in den USA. Sie überweisen rund 23 Mrd. Dollar pro Jahr an ihre Angehörigen in der Heimat, das sind fast 10 Prozent des mexikanischen Staatshaushalts von 252 Mrd. Dollar.
Seit den 1990er-Jahren sind in Mexiko mächtige Drogenkartelle entstanden. Sie produzieren in grossem Stil Cannabis und Metamphetamine. Kokain aus Kolumbien wird in die USA geschmuggelt. Schätzungen gehen davon aus, dass rund 90 Prozent aller Drogen über Mexiko in die USA geschleust werden. Die Einnahmen aus diesem Geschäft werden auf 14–49 Mrd. Dollar jährlich geschätzt. Über 50 Prozent ihrer Einnahmen machen die Kartelle mit Erpressungen, Entführungen, dem Handel mit Raubkopien, Internetbetrug, Waffenschmuggel und Menschenhandel.
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von August 2012
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion