Ende Oktober sorgte ein dramatischer Hilferuf von Indigenen aus dem brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso do Sul für Furore in den sozialen Netzwerken und machte auch international Schlagzeilen. «Wir wollen sterben und direkt hier mit unseren Vorfahren beerdigt werden», schrieben Vertreter der 170 Guarani-Kaiowá der Gemeinschaft Pyelito Kue unweit der Grenze zu Paraguay. «Deshalb bitten wir die Regierung und das Justizsystem, nicht unsere Vertreibung, sondern unseren kollektiven Tod anzuordnen und uns hier zu begraben. Wir fordern, ein für alle Mal unsere Ausrottung anzuordnen und mit Traktoren ein grosses Loch für unsere Körper zu graben.» Auslöser des offenen Briefs war die Entscheidung eines Regionalgerichts, einer Räumungsklage des Viehzüchters stattzugeben, von dessen 700-Hektar-Farm die Ureinwohner derzeit 2 Hektar besetzt halten.
Sklavenähnliche Verhältnisse
Schliesslich führten eine gerichtliche Duldung dieser «Landrücknahme» und Gespräche zwischen Indigenen und Ministern in Brasília zur Entschärfung des Konflikts, doch die Situation in Mato Grosso do Sul bleibt äusserst angespannt. Der Bundesstaat im brasilianischen Mittelwesten gehört zu den Zentren des expandierenden Agrobusiness. Durch den Export von Rindfleisch und Soja, Zucker und Ethanol werden Jahr für Jahr Milliarden an Devisen erwirtschaftet. Leidtragende sind Indigene und Kleinbauern, von denen immer mehr verdrängt werden – oder auch die Landarbeiter, die oft zu sklavenähnlichen Bedingungen auf den Farmen schuften. Die Modernisierung der Produktionsabläufe geht dabei häufig mit der Verschärfung der Arbeitsverhältnisse für die verbliebenen Arbeiter einher. In Mato Grosso do Sul sind Tausende Ureinwohner, darunter viele Jugendliche, zur Schinderei auf den Zuckerplantagen gezwungen, gezahlt wird nach dem Akkordsystem.
Guarani werden verdrängt
Wie kein zweites indigenes Volk in Brasilien sind die gut 30000 Guarani-Kaiowá aus dem Agrarstaat in Landkonflikte verwickelt. Gegen das internationale Agrobusiness, Farmer, Regionalpolitiker und Justizbehörden haben sie dabei kaum eine Chance. Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie von ihrem angestammten Land verdrängt und in kleine Reservate eingepfercht. Von 2000 bis 2011 sind 555 Selbstmorde, zumeist unter Jugendlichen, belegt. Unterernährte Kinder, eine katastrophale Gesundheitsversorgung und Alkoholismus gehören zum Alltag. Dazu kommt die Bedrohung durch die Pistoleiros des Agrobusiness, das sich mit allen Mitteln gegen die Übertragung von Landrechten an die Indigenen wehrt: 2011 wurden in ganz Brasilien 51 Ureinwohner ermordet, davon allein 32 in Mato Grosso do Sul.
Grossgrundbesitzer und Multis weiten die Agrargrenze immer weiter aus. Sie sind zudem die treibende Kraft hinter der Verwässerung des Waldgesetzes, das der Kongress von Brasília in den letzten beiden Jahren Schritt für Schritt durchgesetzt hat. Sie dürfen für illegale Waldrodungen mit einer umfassenden Amnestie rechnen.
Cosan im Zwielicht
Jahr für Jahr wächst in Brasilien die Anbaufläche für Zuckerrohr: Regierungsangaben zufolge betrug sie in der Ernteperiode 2011/12 knapp 8,4 Mil-lionen Hektar, anderthalb mal so gross wie sieben Jahre zuvor – mehr als zwei Mal die Fläche der Schweiz. Befeuert wird der Boom von der steigenden Nachfrage nach dem Agrosprit Ethanol; zugleich legen Investoren aus aller Welt ihr Kapital in Ländereien an, auf denen Zuckerrohr angebaut wird.
2010/2011 ging der Zucker- und Ethanolgigant Cosan ein Joint Venture mit dem holländischen Ölmulti Shell ein, die Firma heisst Raízen. Mit einem geschätzten Marktwert von 20 Milliarden Dollar ist sie das fünftgrösste Unternehmen Brasiliens. Negative Schlagzeilen machte Cosan schon früher. Anfang 2010 war der Multi wegen eines landestypischen Falles von Sklavenarbeit kurzzeitig auf der schwarzen Liste des Arbeitsministeriums gelandet. Auf Zuckerrohrfeldern bei einer Cosan-Fabrik im Bundesstaat São Paulo waren 42 Arbeiter entdeckt worden, die unter menschenunwürdigen Bedingungen schufteten.
Flugs hob ein Richter den Beschluss des Arbeitsministeriums auf, der einen Kreditstopp für Cosan zur Folge gehabt hätte. Ein Jahr später wurde bekannt, dass die Regierung einen Handel mit Cosan abgeschlossen hatte. Darin verpflichtete sich der Multi, interne wie externe Kontrollmechanismen zu verbessern – im Gegenzug bekam er die Garantie, nicht mehr auf der «schwarzen Liste» zu erscheinen. Hinter der Sonderbehandlung steckt auch handelspolitisches Kalkül: Kein anderer brasilianischer Grossbetrieb ist international so verflochten wie Cosan, und die brasilianische Regierung arbeitet mit aller Kraft daran, Ethanol zu einer an den Börsen handelbaren Commodity zu machen.
Zuckerrohr auf Indigenenland
Auch Raízen geriet schon bald ins Gerede. Das Konsortium kaufte eine durch Staatskredite grosszügig geförderte Zucker- und Ethanolfabrik in Caarapó in Mato Grosso do Sul. Hergestellt wird der dortige Agrosprit teilweise aus Zuckerrohr, das Farmer auf über 4000 Hektar des Indianerlandes Guyraroká anpflanzen lassen – ein gutes Drittel jenes Gebiets, das 2009 nach jahrelangen «Rücknahmen» einer Guarani-Kaiowá-Gemeinschaft zugesprochen worden war. Allerdings wurde das Land bis heute noch nicht formell ausgewiesen – wegen Einsprüchen der Grossgrundbesitzer ziehen sich solche Verfahren oft jahrelang hin. Die 120 Mitglieder von Guyraroká leben derzeit auf 58 Hektar Land, das immer stärker von den Besprühungen der Monokulturen in Leidenschaft gezogen wird. «Kinder, Erwachsene, Tiere, alle werden krank davon», sagt Ambrósio Vilhalva, der Anführer der Gemeinschaft.
Nach dem Joint Venture mit Shell stieg der Druck auf Raízen, kein Zuckerrohr mehr zu verarbeiten, das von Indianerland stammt – bereits 2010 hatte die Staatsanwaltschaft den führenden Banken empfohlen, diese Praxis generell nicht mehr zu finanzieren. Schliesslich verpflichtete sich Raízen, bis Ende November den Bezug von Zuckerrohr aus Guyraroká einzustellen. Marcel Gomes von der Forschungsgruppe Repórter Brasil bezeichnet dies als «ersten Schritt zur Anerkennung der Indianerrechte durch die Privatwirtschaft».
Ob sich dahinter eine dauerhafte Kursänderung des Konsortiums verbirgt, ist allerdings noch zweifelhaft. Wochen zuvor war es im Bundesstaat São Paulo erneut wegen ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse zu einer Geldstrafe in Höhe von 440000 Euro verurteilt worden – auf einer Plantage hatte man die Arbeiter zu überlangen Einsätzen gezwungen. Und Anfang Oktober forderte ein Staatsanwalt, zwei Raízen-Fabriken im Hinterland von São Paulo das im Juni von Präsidentin Dilma Rousseff verliehene Gütesiegel «Engagiertes Unternehmen» zu entziehen – wegen vielfältiger arbeitsrechtlicher Verstösse. «Ohne Druck der Öffentlichkeit ist es kaum möglich, dauerhafte Verbesserungen durchzusetzen», ist Marcel Gomes überzeugt.
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von Dezember 2012
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion