MAGAZIN AMNESTY Nordkorea Als Krimineller geboren

Shin Dong-Hyuk kam in einem Lager für politische Gefangene in Nordkorea zur Welt. Mehr als 20 Jahre lang war es für ihn ganz normal, dass ihn Wärter schlugen und misshandelten. Bis ihm die Flucht 
gelang. Interview: The Wire.

Shin_Dong-hyuk.jpg Shin Dong-Hyuk © AI

Amnesty: Wie sah Ihr Leben im Straflager, dem Kwanliso, aus?

Shin Dong-Hyuk: Ich wohnte mit meiner Mutter in einem kleinen, dreckigen Zimmer. Meine Eltern galten als Kriminelle, und so musste auch ich das Leben eines Kriminellen führen. Die Wände waren schimmlig, und es regnete ins Zimmer hinein. Im Winter war es eiskalt. Jeden Morgen machte ich mir beim Aufwachen Sorgen, ob ich das vorgegebene Arbeitspensum erfüllen könnte. Wenn ich es nicht schaffte, bekam ich nichts zu essen. Ich ass, was immer mir die Gefängniswärter gaben, und ich tat, was sie mir sagten. In der Schule lernte ich nur schreiben und einfache Rechnungen. Ab dem Alter von sechs Jahren musste ich harte Feldarbeit verrichten. Uns wurde nichts über Nordkorea, seine Regierung oder die restliche Welt beigebracht. Die Leute im Kwanliso werden als Tiere betrachtet, die es nicht verdienen, das man ihnen etwas beibringt.

Was waren Ihre schlimmsten Erfahrungen im Lager?

Am schlimmsten war der Hunger, zusammen mit der harten Arbeit und den Schlägen. Die Wärter zeigen gegenüber Kindern, Frauen oder älteren Menschen keine Milde. Wer einen Fehler machte, erhielt sofort Schläge. Mehrere Leute wurden zu Tode geprügelt. Eines Tages durchsuchte uns der Lehrer und fand bei einem sechsjährigen Mädchen fünf Maiskörner. Er dachte, es hätte den Mais gestohlen, und schlug es vor unseren Augen. Die Kleine wurde ohnmächtig. Wir brachten sie zu ihrer Mutter. Am nächsten Tag war das Mädchen tot. Solche Dinge waren überhaupt nicht ungewöhnlich. Später arbeitete ich in einer Textilfabrik. Ich liess versehentlich eine Nähmaschine zu Boden fallen. Sie war nicht mehr reparierbar. Ein Wärter wurde sehr wütend und hackte das erste Glied meines Mittelfingers ab, um mich zu bestrafen. Damals dachte ich aber nur, dass ich Glück hatte, weil ich nicht hingerichtet wurde.

Wie standen Sie zu Ihren Eltern?

Es war keine liebevolle Beziehung. Ich wusste gar nicht, was Familie bedeutet. Wir galten alle nur als Kriminelle. Ich versuche immer noch zu begreifen, was es heisst, eine Familie zu haben.

Wie stellten Sie sich die Welt ausserhalb des Lagers vor?

Ich dachte, dass es auf der Welt nur das gebe, was wir im Lager sahen und hörten. Alles, was ich kannte, war diese Welt, in der nur Wärter und Kriminelle existierten. Erst als ich mich mit einem anderen Gefangenen namens Park anfreundete, erfuhr ich einiges über das Leben draussen. Ich glaubte zwar seine Erzählungen nicht so ganz, aber ich beschloss trotzdem, gemeinsam mit ihm einen Ausbruchsversuch zu wagen. Leider schaffte Park es nicht.

Sie selbst wurden gefoltert – wieso?

Damals sah ich es nicht als Folter an. Ich dachte, dass ich diese Behandlung verdient hätte, weil ich Fehler begangen hatte. Meine Mutter und mein Bruder wurden wegen eines Fluchtversuchs hingerichtet. Auch mein Vater und ich sollten hingerichtet werden, doch wie ein Wunder überlebten wir. Ich wurde kopfüber aufgehängt und über einem Feuer geröstet. Ich glaubte, es sei richtig, dass mir das angetan wurde. Ich war nicht wütend auf die Folterer, sondern auf meine Mutter und meinen Bruder, weil sie mich in diese Lage gebracht hatten.

Wie fühlen Sie sich heute?

Seit meiner Flucht bin ich in verschiedene Länder gereist und habe viele neue Gefühle erlebt. Aber ich bin noch immer sehr verwirrt. Im Gefängnislager ging ich davon aus, dass all diese schrecklichen Erfahrungen ganz normal seien. Seit ich geflohen bin und das Leben in Südkorea und den USA kennengelernt habe, sind die Erinnerungen schmerzhafter geworden. Die Veröffentlichung des Buches über mein Leben hat mir mehr Stress bereitet als das Leben im Camp. Ich glaube nicht, dass ich meiner Vergangenheit je entkommen werde.

Was kann die Welt tun, damit die Gefangenenlager in Nordkorea geschlossen werden?

Im Buch verrate ich ein sehr peinliches Geheimnis, das ich über Jahre bewahrt hatte: Meine Mutter und mein Bruder wurden öffentlich hingerichtet, weil ich sie verraten hatte. Ich frage mich, ob die Leute das Buch lesen, meine Geheimnisse erfahren und sie bald wieder vergessen – oder ob sie aktiv werden, damit diese brutalen Menschenrechtsverletzungen ein Ende haben. Hoffentlich arbeitet die internationale Gemeinschaft daran, weitere Morde in Nordkorea zu verhindern. Diese Vorkommnisse überhaupt bekannt zu machen, ist ein wichtiger Schritt. Ich hoffe, dass das Buch dazu beiträgt. Die Menschen in Nordkorea können nichts tun. NGOs wie Amnesty International können in meinen Augen Veränderungen bewirken, indem sie Druck auf das nordkoreanische Regime ausüben.

Ihre Geschichte zu erzählen, muss sehr schwierig sein – warum tun Sie es?

Es ist hart, diese Erinnerungen, die ich eigentlich vergessen will, zu erzählen. Aber wenn ich an die Kinder denke, die im 
Kwanliso geboren werden und ihr ganzes Leben als Sklaven verbringen, bis sie sterben... Dann denke ich, es ist das Mindeste, was ich tun kann, um dieses brutale System aufzubrechen.

Was treibt Sie an?

Materiell geht es mir heute viel besser. In dieser Hinsicht führe ich ein gutes Leben. Aber ich habe noch immer psychische Probleme. Ich lebe in Washington D.C. und 
Seoul, doch es gibt keinen Flecken auf der Welt, den ich meine Heimat nennen könnte.

Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von Dezember 2012
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion