Isabel Eiriz.
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AMNESTY: Welche Gefühle drücken Migrantinnen aus, wenn sie auf das Thema Sexualität angesprochen werden?
Isabel Eiriz: Viele sind im Zwiespalt zwischen Tradition und Moderne, zwischen den Erwartungen der Familie im Herkunftsland und ihren eigenen Wünschen. Häufig ist für sie Weiblichkeit untrennbar mit Mutterschaft verbunden. Doch sobald die Frauen in der Schweiz sind, hinterfragen sie diese Auffassung und beginnen, Mutterschaft als persönliche Wahl zu betrachten. Sie sprechen erstmals vom Recht, über den eigenen Körper selbst zu bestimmen.
Vor welchen besonderen Schwierigkeiten hinsichtlich sexueller und reproduktiver Gesundheit stehen die Migrantinnen?
Es gibt Schwierigkeiten hinsichtlich des Zugangs zur Gesundheitsversorgung, der Kosten, der Wartezeit und Sprachbarrieren. Bei Behandlungen hören manche medizinische Fachkräfte ihren Patientinnen nicht genügend zu. Die Frauen haben das Gefühl, dass sie ihre Entscheidungsfähigkeit verloren hätten. Aber auch Schweizerinnen kennen solche Probleme mit medizinischem Jargon oder das Unwohlsein, wenn sie sich für eine Untersuchung ausziehen müssen.
Wie äussert sich das Gefühl, nicht angehört zu werden?
Manche medizinische Fachkräfte gehen davon aus, dass sie unbedingt über alles informieren müssen. Sie überlegen nicht, welches Vorwissen vielleicht schon besteht. Was zum Beispiel Verhütung angeht, hat die Pille in vielen südamerikanischen Ländern einen schlechten Ruf, während Intrauterinpessare vorgezogen werden. Diese werden aber Migrantinnen sehr selten vorgeschlagen.
Welche Besonderheiten bei der Mutterschaft gibt es im Zusammenhang mit Migration?
Die Bedingungen sind selten ideal: Viele Migrantinnen kämpfen mit der Einsamkeit, einem tiefen Einkommen, einem fehlenden familiären Netzwerk, und häufig haben sie keine Niederlassungsbewilligung. Studien haben gezeigt, dass ausländische Frauen häufiger einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch vornehmen als Schweizerinnen. Dennoch stellen wir fest, dass Schwangerschaftsabbrüche unter Migrantinnen ein Tabu sind und als inakzeptabel gelten.
Wie schwierig ist es, mit Migrantinnen über weibliche Genitalverstümmelung zu sprechen?
Paradoxerweise kommt die Zurückhaltung von unserer Seite. In der Schweiz wird das Thema selten direkt mit Migrantinnen angesprochen – aus Furcht, die Mentalität der Betroffenen zu verletzen. Ich war kürzlich in Burkina Faso und habe dort von einer Sensibilisierungskampagne erfahren. Ich habe gemerkt, dass das Thema nicht dermassen tabu ist, wie wir denken. Mir haben zahlreiche Frauen von ihrer Beschneidung erzählt: Für sie ist es eine unglaublich schmerzhafte Sache, die schwere Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Die Migrantinnen in der Schweiz sind oft im Dilemma, wenn sie entscheiden müssen, ob auch ihre Töchter beschnitten werden sollen. Sie kennen die Schmerzen der Beschneidung, aber sie wissen auch um deren soziale Bedeutung.
Soll man die Beschneidung also aufgrund der Tradition erlauben?
Die Frauen, die mit dieser Tradition brechen, zahlen einen hohen sozialen Preis. Und die anderen Frauen, die diese Tradition fortsetzen wollen, werden hier anklagend angeschaut und handeln gegen das Gesetz. Die weibliche Genitalverstümmelung wird oft als unzivilisiert betrachtet. Das empfinden die betroffenen Frauen als Erniedrigung. Ich bin natürlich gegen die Genitalverstümmelung, aber man sollte die Leute nicht verachten. Wenn Frauen als unselbstständige Opfer angeschaut werden, verschliessen sie sich.
Isabel Eiriz ist in Lausanne bei der Vereinigung Appartenances, die Migranten und Migrantinnen betreut, als Spezialistin in sozialer Psychologie tätig.
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von Februar 2013
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion