Für Carla brach eine Welt zusammen, als sie eines Abends im Dezember 2006 feststellen musste, dass sie im dritten Monat schwanger war. Sie war 13 Jahre alt. Vergewaltigt von einem Lehrer an ihrer Grundschule. Von einem Tag auf den anderen verlor sie alles. Ihr Mutter, rasend vor Wut, schlug sie mit einem Gürtel, bevor sie die eigene Tochter vor die Tür setzte mit dem Argument, dass sie keinen weiteren Esser brauchen könne.
Seit 2006 gehört Nicaragua zu den 3 Prozent der Länder weltweit, in denen ein Schwangerschaftsabbruch mit Gefängnis bestraft wird. Auch wenn Vergewaltigung oder Inzest vorliegt oder das Leben der Mutter durch die Schwangerschaft gefährdet wird. Sogar eine Fehlgeburt ist verdächtig.
Carla war völlig mittellos und musste die Schule abbrechen, ihre Freunde kehrten ihr den Rücken. Ein ganzes Jahr lang bettelte sie in den Strassen Managuas, der Hauptstadt von Nicaragua. Ihr Kind starb bei der Geburt an Atemproblemen. Während der ganzen Schwangerschaft war Carla nie richtig medizinisch betreut worden. Ein Nachbar war bereit, sie auf dem Küchenboden schlafen zu lassen. An den Bushal testellen verkaufte sie Bonbons und bat die Passanten um ein paar Córdobas, die nicaraguanische Währung, damit sie etwas zu essen kaufen konnte. Ihre Verletzlichkeit und ihre Abhängigkeit machten Carla zu einer leichten Beute für viele Männer. Sie erinnert sich gut an ihr Martyrium. Ständig wurde sie belästigt von Männern, die ihr Geld, Medikamente oder Lebensmittel gegen Sex anboten.
Aber dann hatte Carla Glück. Sie fand zunächst Unterschlupf bei Casa Alianza, der mittelamerikanischen Tochterorganisation des US-amerikanischen Strassenkinderhilfswerks Covenant House mit Sitz in New York. Carla kam in einem Pensionat unter, das zu einer Schule von Casa Alianza gehört, und konnte sich dort zur Kosmetikerin ausbilden lassen. Heute, im Alter von 20 Jahren, arbeitet sie immer noch als Kosmetikerin.
Ihr Erfolg ist für die Freiwilligen und die jungen Mütter im Zentrum gleichzeitig Vorbild und Motivation. «Sie haben mir das Leben gerettet, weil ich lernte, dass ich als Mensch Rechte habe», sagt die junge Frau heute.
Traurige Spitzenposition
Carlas Geschichte steht für ein Phänomen, das in diesem kleinen zentralamerikanischen Land alarmierende Ausmasse annimmt. Nicaragua zählt sechs Millionen EinwohnerInnen und gehört, trotz seiner Bodenschätze, zu den ärmsten Staaten Lateinamerikas.
Zwischen 2000 und 2010 wurden in den öffentlichen Spitälern 1,3 Millionen Geburten registriert. Fast 27 Prozent betrafen Mädchen oder Teenager; weltweit liegt der Durchschnitt bei 11 Prozent. Bitter ist diese Zahl vor allem, weil mehr als die Hälfte der Kindermütter gerade mal zwischen 10 und 14 Jahre alt sind. Dies geht aus einem Bericht des nicaraguanischen Gesundheitsministeriums über den Zeitraum 2000 bis 2010 hervor.
«Es ist wirklich ein grosses Problem», bestätigt der Arzt Osmany Altamirano, der als Berater für sexuelle und reproduktive Rechte in Nicaragua bei der NGO Plan International arbeitet. «Im Jahr 2000 belief sich die Zahl der Teenager-Mütter auf 31 Prozent. Auch wenn diese Rate seitdem rückläufig ist, bleibt sie nach wie vor die höchste in Lateinamerika und eine der höchsten weltweit.»
Für Altamirano sind die zahlreichen Kindermütter in Nicaragua nur eines der Symptome der sozialen und finanziellen Misere, in der die meisten jungen Mütter von jeher leben. «Die Mädchen tragen, ohne sich dessen bewusst zu sein, genauso zur Armutsspirale bei wie ihre Eltern und Grosseltern. Sie werden Mütter, bevor sie biologisch reif dafür sind – oder anders gesagt, sie sind schwanger, obwohl sie selber an Mangelernährung leiden. Damit gebären sie untergewichtige und schwache Kinder.»
Ein Teufelskreis, der sich durch die mangelnde Schulbildung noch verschärft. Fast 47 Prozent der schwangeren Mädchen schliessen die Grundschule nicht ab und können so ihr Recht auf Bildung nicht wahrnehmen. «Viele von ihnen müssen für ihren eigenen Unterhalt aufkommen und mit inakzeptablen Arbeitsbedingungen leben, weil sie weder ein Diplom noch Arbeitserfahrung noch Wissen mitbringen. Die Mädchen werden oftmals ohne Erbarmen und völlig mittellos von ihren Familien auf die Strasse gestellt, wo sie immer wieder Opfer von sexueller Ausbeutung werden», erklärt Altamirano.
Situation bleibt schwierig
Die sexuellen Übergriffe beginnen schon früh. In einer Umfrage der Vereinigung Quincho Barrilete in Managua aus dem Jahr 2011 gaben 60 Prozent der befragten Mädchen an, von Schulkameraden, Nachbarn oder Familienangehörigen – sogar vom eigenen Vater – zu sexuellen Handlungen genötigt worden zu sein.
Karla Nicaragua von Quincho Barrilete setzt sich für den Schutz der Strassenkinder in Managua ein. Sie erklärt die Situation unter anderem mit dem sozialen Umfeld, in dem eine Schwangerschaft «einfach etwas ganz Banales» ist, und mit dem Rechtssystem, das Frauen eine Abtreibung selbst dann verweigert, wenn medizinische Risiken bestehen.
«Fehlender Aufklärungsunterricht in den Schulen, Tabuisierung in den Familien, sexuelle Übergriffe und Nötigung, sozialer Druck auf Jugendliche, Armut und Enge, das sind genug Faktoren, welche die Schwangerschaftsrate von Kindern und Teenagern negativ beeinflussen. Dazu kommt ein Rechtssystem, das alles verharmlost», sagt Karla Nicaragua.
Für Lorna Norori von der Bewegung gegen sexuelle Übergriffe (Movimiento Contra el Abuso Sexual, MCAS) zeigen die alarmierenden Statistiken, dass die sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Teenagern omnipräsent ist. Im Jahr 2011 waren mehr als die Hälfte der Vergewaltigungsopfer in Nicaragua Mädchen unter 12 Jahren.
Obwohl immer mehr MenschenrechtsaktivistInnen mit Informationskampagnen darauf aufmerksam machen, dass das Strafrecht jegliche sexuellen Handlungen mit Mädchen und Teenagern unter 14 Jahren einer Vergewaltigung gleichsetzt, scheint sich die Mentalität nicht wirklich zu ändern. Das nicaraguanische Rechtssystem ist wenig ermutigend, hat doch fast die Hälfte der Opfer von sexuellen Übergriffen keinen Zugang zu einem Anwalt.
Von José Adan Silva. Er ist Journalist in Nicaraguas Hauptstadt Managua. Reportage via InfoSud-IPS.
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von Februar 2013.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion