Shalini Randeria.
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AMNESTY: Die tragische Massenvergewaltigung einer 23-Jährigen in Delhi hat hohe Wellen geworfen. Hat Sie die Tat überrascht?
Shalini Randeria: Ein solch furchtbarer Vorfall ist ein Schock. Aber es war nicht der erste derartige Fall, deshalb wäre «überrascht» der falsche Ausdruck. Hingegen hat mich die globale Medienaufmerksamkeit erstaunt.
Welche Folgen wird der Fall haben?
Eine von der indischen Regierung eingesetzte Kommission hat bereits ihre Vorschläge zur Reform des Rechts eingereicht. Ebenfalls wichtig wären die bessere Umsetzung der Gesetze sowie eine Sensibilität bei der Polizei, bei AnwältInnen und RichterInnen sowie in der Öffentlichkeit bezüglich Gender und sexueller Gewalt.
Vergewaltigungsfälle sollen rascher vor Gericht kommen?
Auch das. Es gibt einen enormen Stau an hängigen Gerichtsfällen. Für die Betroffenen ist es wichtig, dass sie nicht jahrelang auf einen Prozess und ein Urteil warten müssen. Aber ich bin keine Anhängerin von Schnellgerichten auf Kosten der Qualität. Bei kleineren Delikten, die bereits vor Schnellgerichten verhandelt werden, gibt oft das Gefühl der Richter, jemand sei schuldig, den Ausschlag anstelle der exakten Beweislage. Das ist ziemlich verheerend.
Die junge Frau stammte aus der städtischen Mittelschicht. Wie sehen die Lebensumstände dieser Frauen aus?
Sie sind in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit jenen in Europa. Die Frauen können ihren Partner selber wählen und auch darüber entscheiden, ob und wie viele Kinder sie haben, wo und wann sie arbeiten usw. Diskriminierung am Arbeitsplatz existiert wie anderswo auch. Genauso häusliche Gewalt. In der Öffentlichkeit ist das Klima aber oft rauer als in Mitteleuropa: Frauen und Mädchen werden in Delhi auf der Strasse «angemacht», belästigt oder in Bussen betatscht. Ich möchte indes davor warnen, pauschale Urteile zu fällen: Meine Urgrossmutter machte in Indien eine Universitätsausbildung – im Jahr 1901, was in Europa kaum möglich gewesen wäre! Als ich in Delhi studierte, machten Frauen 30 Prozent der Soziologie-Professoren aus. Von einer solchen Quote können Frauen in der Schweiz nur träumen. Am Obersten Gericht, in der Ärzteschaft und in der Wirtschaft gibt es in Indien viel mehr Frauen als in der Schweiz.
Wie sieht die Situation in den Dörfern aus? Tendenziell werden Frauen auf dem Land jung und innerhalb ihrer Kaste im Rahmen einer arrangierten Ehe verheiratet, die Partnerwahl ist sehr eingeschränkt. Die Frauen leben in der Familie der Schwiegereltern und sie bekommen früh Kinder. Dazu wird ihr Verhalten von Verwandten bis hin zu Kastenräten überwacht, angebliche «Fehltritte» werden geahndet. Um zu verstehen, wie Frauen ihre Rechte wahrnehmen können, muss das Geschlecht immer in Verbindung mit Klassenzugehörigkeit, Urbanität, Bildung und Erwerbsmöglichkeiten gesehen werden – im Falle Indiens auch mit dem Landesteil.
Was meinen Sie damit?
In Kaschmir und im Nordosten Indiens etwa gibt es eine starke Armeepräsenz. Unter dem dortigen Ausnahmerecht werden die Bürger- und insbesondere die Frauenrechte krass missachtet. Es gibt sehr viele dokumentierte Fälle, in denen Militärs Frauen aus der lokalen Bevölkerung vergewaltigt haben. Alle Täter gehen straflos aus.
Was unterscheidet die arrangierte Ehe, die in Indien vielerorts üblich ist, von einer Zwangsehe?
Eine Zwangsehe ist eine Ehe gegen den Willen der Betroffenen, vor allem der Frau. Eine arrangierte Ehe ist eine Ehe, in der nicht die Braut, sondern die Familie den Bräutigam aussucht. Zwar ist es keine Liebesheirat, aber es bedeutet nicht, dass Zwang vorherrscht.
Warum werden gemäss Schätzungen monatlich 50'000 weibliche Föten abgetrieben?
In patriarchalen Strukturen ist ein Sohn mehr «wert» als eine Tochter. Die Gründe liegen teilweise im rituellen Bereich: Todesrituale können nur von Söhnen durchgeführt werden. Nur ein Sohn kann die Familienlinie fortsetzen. Es gibt auch einen sozialpolitischen Hintergrund. Der völlig abwesende Wohlfahrtsstaat führt dazu, dass die Eltern im Alter und im Krankheitsfall auf die Unterstützung durch ihre Söhne angewiesen sind.
Pränatale Diagnostik zur Geschlechterbestimmung ist in Indien eigentlich verboten.
Das Verbot kann nur durchgesetzt werden, wenn sich entweder die Ärzte rechtskonform verhalten (was sie nicht tun) oder wenn ein staatlicher Apparat fehlbare Ärzte und Familien bestraft. Da entstünde aber ein Dilemma: Soll die junge Frau als schwächstes Glied in der Kette dafür bestraft werden, dass sie unter grossem Druck des Ehemannes oder der Schwiegereltern oft zu einer solchen Abtreibung gezwungen wird?
Wird sich der Knabenüberschuss mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung abschwächen?
Das wäre ein Trugschluss! Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. Im recht wohlhabenden nördlichen Punjab ist das Missverhältnis bei der «sex ratio» besonders krass, während es im wirtschaftlich schwachen südlichen Kerala ein ausgewogenes Verhältnis gibt.
Was müsste zur Stärkung der Frauenrechte getan werden?
Es gibt in vielen Bereichen ein Versagen staatlicher Institutionen: Polizei, Gerichte, Krankenhäuser, Schulen. Frauenrechte können nur durchgesetzt werden, wenn diese Institutionen funktionieren, Frauenrechte schützen und wenn eine Sensibilität für Geschlechterfragen existiert. Gebildete Frauen können ihre Rechte besser durchsetzen. Arbeitsmöglichkeiten versetzten sie in die Lage, wirtschaftliche Autonomie zu erlangen.
Welche Rolle spielen Aktivistinnen und NGOs?
Indien hat eine starke Frauenbewegung. In den letzten Jahren hat ihr Druck zu vielen Gesetzesänderungen wie etwa dem Verbot von Mitgift oder geschlechtsspezifischer Abtreibung geführt. Die Möglichkeiten, diese neuen progressiven Gesetze umzusetzen, sind jedoch leider beschränkt. In der öffentlichen Diskussion können sich Frauen über die Medien und über landesweite Mobilisierung oft Gehör verschaffen. Beim eingangs erwähnten tragischen Fall in Delhi gab es einen starken öffentlichen Ruf, die Todesstrafe gegen Vergewaltiger zu verhängen. Die Frauenbewegung hat sich einstimmig dagegen geäussert und die Regierungskommission hat diese Argumentation aufgenommen. Das ist eine sehr begrüssenswerte Entwicklung.
Interview: Boris Bögli
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von Februar 2013.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion