Dem Kalender nach müsste es eigentlich Frühling sein, aber noch immer liegt Schnee wie eine weisse Decke auf dem waadtländischen Dorf Sainte-Croix und den umliegenden Hügeln. Paul Schneider öffnet die feuersichere Tür des Asylzentrums. Der ehemalige Chirurg und Chef des hiesigen Spitals leitet die 15-köpfige Freiwilligengruppe. Er führt zu zwei kleinen Zimmern im Erdgeschoss, dem Kleiderladen des Vereins. Dort wartet Marie-Claude. Sie stapelt neue und gebrauchte Kleider, die zu einem symbolischen Preis verkauft werden. «Wir kaufen mit unseren Mitteln Winterschuhe, Kleider und warme Unterwäsche», sagt sie. «Wenn die Asylsuchenden hier eintreffen, sind sie nicht gut ausgerüstet.»
Alix, gekleidet in apfelgrüne Jeans und einen Pullover der gleichen Farbe, kümmert sich um die Administration des Kleiderladens. «Heute sind nur wenige Leute hier. Anfang Winter standen manchmal 40 Personen Schlange», kommentiert die Freiwillige mit runder Brille und grauen Locken. Sie verkauft auch Kinobillette für zwei Franken. Den restlichen Betrag bezahlen neben der Freiwilligenorganisation und dem lokalen Kino Royal das Etablissement Vaudois d’Accueil des Migrants (Waadtländer Einrichtung für den Empfang von Migranten, EVAM), welches das Asylzentrum in Sainte-Croix führt.
Zwischendurch erscheint lächelnd Anica* im Türrahmen. Der Mann der Bosnierin steckt seit vier Jahren im Asylverfahren. «Sie spricht serbo-kroatisch und russisch, das ist eine grosse Hilfe. Ihr Mann steht unter Druck von staatlichen Kreisen in seiner Heimat. Aber seine Geschichte sei nicht ‹politisch›, heisst es in Bern», erläutert Paul Schneider.
Alle an einem Tisch
Dass die Freiwilligen Zugang zum Zentrum haben, ist nicht selbstverständlich. «Wir mussten insistieren. Aber mittlerweile gibt es ein Klima des Vertrauens, und wir können uns frei in den Gebäuden bewegen», erklärt Paul Schneider. Wie der Vater von 4 Kindern und Grossvater von 13 Enkeln sagt, gibt es in Sainte-Croix alle 6 Wochen eine Sitzung mit allen Leuten, die mit dem Asylbereich zu tun haben: mit VertreterInnen der Gemeinde, des EVAM, der Polizei, der Schule, der Gesundheitsdienste und den Freiwilligen.
Dort kristallisiert sich heraus, welche Probleme und Bedürfnisse bestehen. Die Idee des Kleiderladens ist an einem solchen Treffen entstanden, und auch das Götti-System: Jeden Freitag versammeln die Gotten und Göttis jene Asylsuchenden, die Eltern von schulpflichtigen Kindern sind. Sie sollen helfen, die Beziehung zur Schule zu vereinfachen.
Martine, eine dieser Gotten, sitzt mit einem Lächeln im fast kindlich wirkenden Gesicht in einem Zimmer voller Leute. Zwei tschetschenische Kinder zeichnen mit einer kleinen Somalierin. Sie sprechen bereits Französisch. Danièle, eine der Freiwilligen, macht Scherze mit einer Eritreerin und einem Tunesier. Um einen Tisch herum sitzen Männer aus Eritrea und Westafrika. Arlette, Pauls Ehefrau, bringt Kaffee, Schwarz-und Pfefferminztee. Auf einem Tisch stehen Früchte, Kuchen, Nüsse und belegte Brote. Dieser Treffpunkt gab dem 1992 gegründeten Verein seinen Namen: Café-Contact.
Problemen zuvorkommen
Über das weitere Schicksal der anwesenden Kinder, Frauen und Männer wird gemäss den Kriterien des Asylrechts entschieden. Die wenigsten werden den Flüchtlingsstatus und einen B-Ausweis oder immerhin eine vorläufige Aufnahme erhalten. Die Asylgesuche der Mehrheit werden wahrscheinlich zurückgewiesen. Diese Menschen kommen dann in die Nothilfe und kehren entweder in ihr Herkunftsland zurück oder verschwinden im Untergrund.
Gemessen an den grossen Auswirkungen, die diese Behördenentscheide haben, scheinen die Treffen mit den Freiwilligen von Café-Contact läppisch. Doch sie sind notwendig. Während der manchmal langwierigen Asylverfahren können die Freiwilligen bei der Übersetzung von Dokumenten oder mit Kontakten zu Anwälten und Anwältinnen behilflich sein. Für jene Menschen, die in der Schweiz bleiben können, sind die ersten Schritte der Integration gemacht.
Die Ehrenamtlichen haben eine Vereinbarung unterzeichnet, die ihre Kompetenzen und Pflichten festhält, und sie unterstützen die manchmal schwierige Arbeit des EVAM-Personals. «Wir sehen, welche Asylsuchenden sich in einer schwierigen Situation befinden, und können handeln, bevor sich massive Probleme ergeben», erklärt Paul Schneider in bestimmtem Tonfall.
Vor einiger Zeit ist nach einer Prügelei im Zentrum für «renitente Asylsuchende» Waldau in Landquart ein Bewohner gestorben. Und gegen Angestellte des Zentrums Perreux im Kanton Neuenburg sind Vorwürfe des Vertrauensmissbrauchs erhoben worden. Es ist notwendiger denn je, dass sich die Zivilgesellschaft in den Asylbereich einmischt.
*Name geändert
Nein am 9. Juni 2013
Amnesty International ruft die Schweizer StimmbürgerInnen auf, am kommenden 9. Juni ein Nein in die Urne zu legen gegen die Verschärfungen im Asylgesetz. Über das Referendum hinaus engagiert sich Amnesty International für eine faire und menschliche Asylpolitik.
Von Nadia Boehlen
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von Mai 2013.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion