Amnesty: Verwandeln Drohnen den Krieg in ein Videogame?
Nils Melzer: Die heutigen Drohnen sind für uns furchterregend, weil niemand drin sitzt. Aber in der Realität steuert ein Pilot jede Bewegung und jede Aktion, doch aus Tausenden von Kilometern Distanz. Er riskiert im schlimmsten Fall den Verlust der Drohne, nicht sein Leben. Er hat keinen Selbsterhaltungsstress, der im Krieg oft zu Fehlern führt. Aber bei herkömmlichen Flugzeugangriffen führt die menschliche Nähe vielleicht auch zu Mitgefühl. Doch man kann nicht von einem Videospiel sprechen, die amerikanischen Drohnenpiloten sehen es nicht als Spiel. Die nehmen ihre Arbeit sehr ernst.
Sind Drohnenangriffe legal?
In Friedenszeiten sind Drohnenangriffe rechtlich kaum zu rechtfertigen. Im Krieg sieht es anders aus. Es spielt im Prinzip keine Rolle, ob der Pilot direkt im Kampfgebiet ist oder Tausende von Kilometern entfernt. Das humanitäre Völkerrecht, welches in bewaffneten Konflikten gilt und zum Ziel hat, Leiden und unnötige Schäden zu begrenzen, verbietet unterschiedslose Waffen, mit denen nicht zwischen sogenannt legitimen Zielen und geschützten Personen unterschieden werden kann, etwa Giftgas. Doch sofern ein Drohnenpilot gezielt auf ein legitimes Ziel schiesst, ist das grundsätzlich vereinbar mit dem humanitären Völkerrecht. Noch mehr Sorgen als die aktuellen Drohnen machen mir allerdings die künftigen Waffen.
In welcher Hinsicht?
Verschiedene Staaten arbeiten daran, dereinst grosse Teile ihrer Streitkräfte zu automatisieren. Es geht um die nahtlose Zusammenfügung von Robotern und menschlichen Armeeangehörigen, sei es zu Land, Wasser oder in der Luft. Letztes Jahr hat das US-Verteidigungsministerium nach eigenen Angaben 35 Milliarden Dollar nur in unbemannte Flugkörper investiert. Grossbritannien seinerseits entwickelt Taranis: eine Drohne, die mit Überschallgeschwindigkeit fliegen und gewisse Ziele selbst aussuchen kann. In öffentlichen Stellungnahmen äussern sich diese Länder immer sehr vorsichtig: Sie würden zwar automatisierte Zielerkennungssysteme entwickeln, aber jede Gewaltanwendung werde auch künftig immer von Menschen gesteuert.
Das ist doch widersprüchlich.
Ja, eindeutig. Die Staaten würden diese Technologie nicht entwickeln, wenn sie sie nicht einsetzen wollten. Automatisierte Verteidigungssysteme bestehen schon heute, zum Beispiel Raketenabwehrschilde. Und an der Grenze zwischen Süd- und Nordkorea werden Wachroboter eingesetzt, die automatisch auf Eindringlinge schiessen können. Es wird zwar noch lange gehen, bis eine Kampfdrohne einen Menschen identifizieren und angreifen kann. Aber das wird mit Sicherheit kommen. Neben der Automatisierung, bei der eine Waffe reflexartig auf gewisse Signale reagieren kann, wird auch die Autonomisierung vorangetrieben: Maschinen sollen selbst Fakten interpretieren und Entscheidungen treffen, die man gar nicht voraussehen konnte. Das ist höchst problematisch. Denn in Kriegen müssen immer unzählige Faktoren abgewogen werden. Eine Maschine ist dazu nicht in der Lage, auch wenn sie schneller als Menschen handeln kann. Es gibt so viele Varianten an Wirklichkeiten, die sind nicht alle computerisierbar.
Kann das internationale Recht solche Fälle abdecken?
Grundsätzlich legt ja das internationale Recht die Prinzipien fest, und die Technologie sollte sich diesen Prinzipien anpassen, nicht umgekehrt. Doch genau das geschieht momentan. Die Regierungen sollten Grenzen und Verantwortlichkeiten aushandeln, so wie sie das für Minen oder Streubomben getan haben. Was geschieht, wenn eine solche zukünftige Maschine eine schlechte Entscheidung trifft? Ich habe sogar den Vorschlag gehört, dass man den Roboter strafbar machen und ihn bei Vergehen zur Strafe abschalten könnte. Unglaublich! Das wäre, wie wenn bei einem Raser das Auto bestraft würde.
Wird es ein Wettrüsten mit automatisierten Waffen geben?
Das Wettrüsten läuft jetzt schon. Ich bin überzeugt, dass die automatisierte Technologie in 25 Jahren fast die ganzen Luftwaffen ersetzen wird, weltweit. Sie ist viel billiger, eine Drohne kostet zehnmal weniger als ein Kampfjet. Dann fällt die Feilscherei weg, die wir derzeit beim «Gripen» beobachten können. Das Risiko für die eigenen Soldaten ist viel kleiner. Für die Machthabenden sind Drohnen das Nonplusultra. Ich finde vor allem die drohende Automatisierung der Gewaltanwendung furchterregend. Heute haben bereits 50 bis 70 Länder Drohnentechnologie akquiriert oder sind an deren Entwicklung.
Verfügen alle diese Staaten über bewaffnete Drohnen?
Nein, viele Staaten setzen derzeit nur unbewaffnete Drohnen zur Aufklärung ein. Die USA, Grossbritannien und Israel haben schon bewaffnete Drohnen eingesetzt. Bei anderen Ländern, beispielsweise China und Russland, ist es unklar.
Die USA schiessen in Pakistan und Jemen Leute ab, ohne mit diesen Ländern im Krieg zu sein. Wie ist das möglich?
Wenn dies ohne gültiges Einverständnis der betreffenden Staaten geschieht, verletzen die USA damit die Souveränität der beiden Länder. Wahrscheinlich gibt es hinter den Kulissen gewisse Absprachen. In meinen Augen muss eine zeitgemässe Auslegung des Selbstverteidigungsrechts aber die Möglichkeit einschliessen, dass ein Staat auch gegen nicht-staatliche Gruppen in einem anderen Land vorgehen darf, wenn diese wirklich eine unmittelbare Gefahr darstellen und das andere Land diese Gruppen nicht bändigen kann oder will. Der Souveränitätsschutz darf auch nicht missbraucht werden.
Amnesty International zieht die Grenzen enger und kritisiert das Konzept eines «globalen Krieges», das die USA anwenden, um die Drohnenangriffe zu rechtfertigen.
Die USA haben ein legitimes Interesse, sich zu verteidigen. Auf der anderen Seite hat natürlich die lokale Bevölkerung in Pakistan und im Jemen ein legitimes Interesse, nicht dauernd den Drohnenangriffen ausgesetzt zu sein. Das Hauptproblem sehe ich in der fehlenden Transparenz der USA. Die Amerikaner sagen zwar, sie würden sich an Regeln halten. Doch wer überprüft das? Es ist alles «classified» und «top secret». Die USA haben zwei Regeln bekannt gemacht. Einerseits die «Signature Strikes», mit denen Leute angegriffen werden, die nicht persönlich als feindliche Kämpfer identifiziert worden sind, sondern aufgrund von unbestimmten Indizien verdächtigt werden, Terroristen zu sein. Das sind Indizien wie etwa der Aufenthaltsort und persönliche Kontakte, oder auch Informationen von Kollaborateuren, was schwere Zweifel an der Zuverlässigkeit solcher Informationen aufkommen lässt. Die zweite Regel ist, dass Drohnenangriffe laut der CIA keinen Kollateralschaden unter der Zivilbevölkerung mehr verursachen. Die USA gehen schlicht davon aus, dass alle männlichen Afghanen oder Pakistani in den pakistanischen Stammesgebieten, die im Kampfesalter sind, feindliche Kämpfer sind. Das ist völkerrechtswidrig.
Haben die Stammesgebiete in Pakistan eine zu kleine Lobby? Würden diese Drohnenangriffe über einem westlichen Staat geschehen, wäre der Aufschrei doch viel grösser.
Natürlich, die USA können als Gigant der Welt weitgehend machen, was sie wollen. Sie nehmen in Anspruch, dass sie sich überall verteidigen dürfen, wo sie sich bedroht fühlen. Problematisch ist, dass sie damit gewisse Standards setzen. Was könnte die US-Regierung erwidern, wenn zum Beispiel China einen Dissidenten in London mit einer Drohne abschiessen würde, weil es sich angeblich von ihm bedroht fühlt und sich die britische Regierung weigert, ihn festzunehmen und an China auszuliefern? Das weltweite Gefüge, das nach dem zweiten Weltkrieg mühsam aufgebaut wurde, beginnt sich aufzulösen. Verschiedene Länder verfolgen wieder stärker Partikularinteressen und betreiben Machtpolitik. Das untergräbt den Konsens, der mit der Uno geschaffen wurde.
Warum setzen die USA viel häufiger Drohnen ein, seit Obama Präsident ist?
Als sich Israel vor über einem Jahrzehnt offiziell zu einer Politik der gezielten Tötung bekannte, haben sich die Amerikaner noch stark von solchen Methoden abgrenzt. Sie sprachen von aussergerichtlichen Hinrichtungen. Das war im November 2000. Ein Jahr später war quasi ein Jahrtausend später: Nach dem 11. September 2001 setzten auch die USA auf gezielte Tötungen, wenn auch noch nicht systematisch. Dabei wurden Drohnen schnell zur Waffe der Wahl. Zwischen 2004 und 2008 gab es rund 35 Angriffe ausserhalb des Kriegsschauplatzes von Afghanistan. Nach Obamas Amtsantritt stieg diese Zahl stark. Zwar werden keine genauen Zahlen bekannt gegeben, aber Bürgerrechtsorganisationen gehen davon aus, dass in rund 350 Drohnenangriffen zwischen 3‘000 und 5‘000 Menschen getötet wurden. Böse Zungen sprechen hier sogar von einem möglichen Zusammenhang mit Guantánamo: Die US-Behörden können das Lager nicht schliessen, weil sie nicht wissen wohin mit den Insassen. Und sie wollen auf keinen Fall neue Häftlinge. Nun setzen sie eine Waffe ein, die keine Gefangenen machen kann.
Verschiedene US-Medien schlugen vor, ein eigenes Gericht für die Drohnen zu schaffen. Aber was bringt das?
Vor zweihundert Jahren entstand die gute Idee der Gewaltenteilung, und jetzt sind wir in einer Zeit angekommen, in der sehr viele Sicherheitsoperationen geheim ablaufen und auch zu einem gewissen Grad geheim sein müssen. Anders kommt man nicht gegen die Terroristen an. Auf der anderen Seite müssten solche Operationen demokratisch kontrolliert werden. Diese demokratische Kontrolle funktioniert allerdings noch nicht richtig. Wie kann man die legitimen Interessen eines Staates verteidigen, ohne dass es zu Fichenaffären oder noch schlimmeren Auswüchsen kommt? Das ist eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit. Menschenrechte und Sicherheitsaspekte müssen unter einen Hut gebracht werden. Und eine demokratische Überwachung ist notwendig. Beim Gedanken an die Möglichkeit einer automatisierten Streitkraft ohne demokratische Überwachung läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Dann sind wir beim Terminator angekommen. Ich war ein Teenager, als die Terminatorfilme starteten. Damals hielt ich das für unvorstellbar. Inzwischen sind wir zwei Drittel des Weges gegangen.