«Die Frauen brauchen sich für ihre Stimme nicht zu schämen! Die Stimme der Frau ruft Revolution, Revolution!» Hunderte Frauen haben sich im Zentrum von Kairo getroffen, um gegen sexuelle Belästigung zu demonstrieren. Es sind alte und junge, verschleierte und unverschleierte. «Wir haben das Recht, frei durch die Strassen zu laufen!», rufen sie.
Seit der Revolution 2011 haben die ägyptischen Frauen ein neues Selbstbewusstsein: Sie mischen sich ein, sie gründen Initiativen und sie demonstrieren lauthals auf den Strassen. Doch gerade Demonstrantinnen sind in jüngster Zeit besonderen Gefahren ausgesetzt. Ausgerechnet auf dem symbolträchtigen Tahrir-Platz kommt es vermehrt zu Massenangriffen und -vergewaltigungen, besonders seit November 2012. Am Rande der heutigen Demonstration steht eine Gruppe junger Leute; sie gehören zur «Operation gegen sexuelle Belästigung», auf Englisch kurz: OpAntiSH. Salma el-Tarzi, Anfang 30, kurze wilde Locken, ist Filmemacherin und arbeitet ehrenamtlich als Sprecherin für OpAntiSH. Sie erzählt vom zweiten Jahrestag der Revolution: «Der 25. Januar 2013 war bis jetzt am schlimmsten. Mindestens 19 Frauen wurden an diesem Tag Opfer von Massenattacken. Zwei wurden mit einem Messer an den Genitalien verletzt.»
Die Angriffe laufen meist ähnlich ab: Ein Mob von 50 bis 200 Männern kreist eine Frau ein, zieht sie aus, begrapscht sie, schlägt sie, vergewaltigt sie mit Fingern oder Gegenständen. Wer fragt, ob die Polizei die Frauen nicht schützen kann, erntet nur ein mitleidiges Lächeln. Die Polizei ist in Ägypten vielen verhasst und seit der Revolution kaum noch im öffentlichen Raum präsent. Ausserdem bringt fast jeder Tag neue Schlagzeilen über Polizeigewalt.
Die Massenangriffe auf dem Tahrir-Platz wirken organisiert. Deshalb vermutet Salma el-Tarzi einen politischen Hintergrund. «Die Frauen sollen vom Tahrir-Platz vertrieben werden. Die Anstifter profitieren davon, dass sexuelle Belästigung in Ägypten verankert ist – wenn sie 100 Männer schicken, werden schon 2000 freiwillig mitmachen.»
Begrapschen in der Metro
Denn sexuelle Belästigung ist in Ägypten Alltag – vom blöden Spruch auf der Strasse bis zum Begrapschen in der Metro. Die Organisation «Basma», zu Deutsch Fingerabdruck, will dagegen vorgehen. Die Metro ist einer ihrer Einsatzorte: Mitten im Gewusel der Haltestelle Orabi stehen ein Dutzend junger Leute in blauen Poloshirts und sprechen die Fahrgäste an, Männer wie Frauen. Sie verteilen ihre Broschüre, darin stehen unter anderem die Ergebnisse einer Studie des Egyptian Centre for Women’s Rights von 2008: Damals gaben 83 Prozent der Ägypterinnen an, schon sexuell belästigt worden zu sein, knapp zwei Drittel von ihnen waren verschleiert.
Die meisten PassantInnen unterstützten die Aufklärungsarbeit von Basma, erzählt Amr Shabaan. Er war von Anfang an bei Basma dabei, weil er die Gesellschaft verändern will, ohne politisch Position zu beziehen. «Einige Männer verteidigen sexuelle Belästigung auch», meint er.
Die häufigste Entschuldigung: Im konservativen Ägypten ist Sex vor der Ehe verboten; junge Männer seien deswegen sexuell frustriert. Basma und andere Initiativen wollen diese Rechtfertigungen entkräften. «Belästigung befriedigt doch niemanden sexuell. Ausserdem machen das auch Kinder und Verheiratete. Wir glauben, es ist einfach Schikane. Die Menschen wurden so lange unterdrückt in diesem Land, dass sie es jetzt an Schwächeren auslassen.»
Verschiedene Realitäten
«Wir leben in einer Gesellschaft, die Frauen beschuldigt», sagt Nihal Zaghlul. Sie ist 27 und eine der Gründerinnen von Basma. Sie sitzt in einem Café am Nil, hat sich die Kapuze ihres Sweatshirts übers Kopftuch gezogen und zieht an ihrer Wasserpfeife. Seit der Revolution habe sich die Situation der Frauen nicht verbessert. In der umstrittenen Verfassung von 2012, die fast nur von islamistischen Parteien verabschiedet wurde, werden Frauenrechte nur vage definiert. Dort steht zum Beispiel, dass die Regierung den «ursprünglichen Charakter der ägyptischen Familie» schützen wolle. «Aber was bedeutet das denn? Die Frauen der Oberschicht gehen aus, rauchen, tragen kein Kopftuch. In den Slums gibt es Frauen, die ohne Erlaubnis des Vaters oder Bruders nicht aus dem Haus dürfen. Welche Familie ist nun der Massstab?»
Nach Ansicht einer Arbeitsgruppe der Uno schützt die Verfassung nicht ausreichend vor Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts. Dazu passt die Reaktion der Muslimbrüder auf die kürzlich verabschiedete Erklärung der Uno-Mitgliedstaaten, «die Rechte von Frauen und Mädchen genauso zu schützen wie die von Männern und Jungen». Diese Erklärung sei «unislamisch» und könne zu einer «völligen Zersetzung der Gesellschaft» führen. Nihal Zaghlul und andere gebildete Frauen fürchten den wachsenden Einfluss der Muslimbrüder im Land. «Es gibt eine Redewendung», erzählt sie: «Die Frauen haben euch während der Revolution aus dem Gefängnis geholt, jetzt wollt ihr sie zurück ins Haus sperren.»
In Oberägypten hätten die Frauen von der Revolution gar nichts mitbekommen, sagt Nadia Adel. «Dort arbeiten sie auf dem Feld, versorgen die Familie und der Mann sitzt im Café und bekommt das Geld.» Die junge Frau kommt aus dem Süden, weit weg von der Hauptstadt. Jetzt sitzt sie in Kairo mit einem Dutzend Frauen um einen Tisch in der New Women Foundation und bereitet Plakate für die nächste Demonstration vor. Die New Women Foundation setzt sich seit 1985 für Frauenrechte ein – nicht unter dem Schirm des Staatsfeminismus von Suzanne Mubarak, sondern immer schon in der Opposition. Aber seit die Partei «Freiheit und Gerechtigkeit», der politische Arm der Muslimbrüder, regiert, ist die Arbeit noch schwieriger geworden, berichtet die Chefin Nevine Ebeid: «Für die Muslimbrüder ist recht offensichtlich, dass wir nicht auf ihrer Seite sind. Sie haben uns die finanzielle Unterstützung gestrichen.»
Keine Naivität
Die Verliererinnen der Revolution werden Frauen in Ägypten von einigen genannt. Aber wie Verliererinnen sehen sie nicht aus. Im Foyer der New Women Foundation durchsucht eine junge Frau das Internet nach Revolutionsparolen. Die Slogans scheppern aus den Computerboxen und die Frauen beraten, welche sie benutzen wollen. Die Stimmung im Raum ist heiter – keine naive Heiterkeit, alle wissen, dass schwere Zeiten vor ihnen liegen. «Aber alles ist anders geworden», sagt Nadia Adel. «Wir können sprechen, wir können am Geschehen teilnehmen, und wir gehen auf die Strasse, um zu protestieren.» Eine der jungen Frauen hält ein fertiges Plakat hoch: «Auf meinen Schultern ruht die Revolution», steht darauf.
Von Aurelie Winker. Sie ist freie Journalistin und hat in Kairo unter anderem im ARD-Hörfunkstudio gearbeitet.