AMNESTY: Steckt die arabische Welt zwei Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings in einer Sackgasse fest?
Hasni Abidi: Ich würde eher sagen, sie versucht, sich aus einer Sackgasse zu befreien. Die vormaligen autoritären Regimes hatten der arabischen Welt das Image von Stabilität verschafft. Heute sehen wir, wie schwierig der Prozess hin zur Demokratisierung ist. Denn die autoritären Regimes hatten keine Staaten geschaffen, sondern die Staaten vereinnahmt. Der Übergang ist ein langer Verhandlungsprozess, und es ist nicht garantiert, dass er von Erfolg gekrönt sein wird. Wir können nicht ausschliessen, dass sich dieser Prozess verlangsamt oder es gar eine Rückkehr zu autoritären Staatsformen geben wird.
Gibt es eines oder mehrere Länder, in denen eine Demokratisierung im Gange ist?
Zwei Jahre sind nur wenig Zeit. Doch jene Länder, in denen eine Revolution stattfand, wie Libyen, Ägypten oder Tunesien, befinden sich mit Ausnahme von Syrien in einer Transitionsphase. In Tunesien läuft dieser Prozess trotz grosser Schwierigkeiten am besten. Die Verfassung ist noch immer in Vorbereitung. Das zeigt, dass die Tunesier keine Verfassung durchzwängen wollen, die ungenügend ist und nicht den Erwartungen der ganzen Bevölkerung entspricht.
Welche Grenzen hat die Demokratisierung in diesem Land?
Der Machthunger der islamistischen Bewegung, ihr Drängen, Politik und Gesellschaft zu dominieren, stellt eine Grenze dar. Aber die Krise nach der Ermordung des Oppositionellen Chokri Belaïd hat gezeigt, dass auch die Macht der Islamisten Grenzen hat. Die regierende islamische Ennahda- Partei hat ausserdem die Schlüsselministerien wie das Innendepartement, auswärtige Angelegenheiten, Justiz und Verteidigung neutralen Männern mit fachlichen Kompetenzen übergeben.
Gefährden die islamistischen Parteien die Veränderungen?
Häufig konstruiert man für die arabische Welt eine Polarisierung zwischen islamistischen und demokratischen Bewegungen. Ich lehne diese Auffassung ab, denn auch in der islamistischen Bewegung gibt es demokratische Elemente. Zudem ist es in meinen Augen ein Fortschritt, dass Ennahda in Tunesien oder Al-Nour in Ägypten die demokratischen Spielregeln akzeptieren. Es ist besser, wenn sich diese Bewegungen in die Politik einbringen, statt nur auf dem rein religiösen Terrain zu bleiben. Die Muslimbrüder in Ägypten hatten eine versteckte Agenda. Als sie sich für die Parlamentswahlen in Ägypten aufstellten, haben sie erklärt, sie würden nicht die Präsidentschaftswahlen anstreben und keine Mehrheit in beiden Kammern wollen. Aber sie haben diese Versprechen gebrochen. Angesichts ihrer breiten Mehrheit haben sich ihre Forderungen vergrössert.
In Bahrein wurden die Protestbewegungen blutig niedergeschlagen und in Marokko mit Reformen zum Schweigen gebracht. Gibt es Aussicht auf Veränderungen in diesen Ländern?
In Bahrein ist eine sunnitische Minderheit an der Macht und die schiitische Mehrheit in der Opposition. Der Einfluss des Irans hilft dieser Opposition nicht, die im Übrigen keine konfessionelle, sondern eine Bürgerbewegung ist. Dazu kommt die Nähe der USA und Europas zu den aktuellen Behörden. Marokko muss man weiter beobachten, dort gab es Reformen. Das politische System basiert auf der Monarchie und auf der Religion. Der König ist der Kommandeur der Gläubigen. Zurzeit ist er nicht in Frage gestellt, aber die Sympathien für ihn drohen zu enden. Das ist eine interessante Entwicklung. Die marokkanische Verfassung geht sogar über das hinaus, was manche Parteien verlangten. Aber der König sollte seine Macht mit einer wirklichen Regierung teilen, welche die marokkanische Bevölkerung vertreten würde.
Wie steht es in Libyen?
Libyen profitiert von einer gewissen politischen Jungfräulichkeit. Die Parteien sind neu, die Institutionen müssen gebaut werden. Das Land hat ausserdem mit dem Erdöl einen wichtigen Rohstoff, dessen Erträge es erlauben werden, die demokratische Entwicklung zu konsolidieren und soziale Revolten wie in Ägypten und Tunesien zu vermeiden. Leider hat die aktuelle Regierung unter Ali Zidane eine schwierige Situation geerbt, da sich der Umsturz in Libyen mit militärischen Mitteln vollzog. Der Westen hat eine grosse Verantwortung. Es reicht nicht, Waffen zu verteilen und militärisch zu intervenieren. Man sollte auch den Übergang begleiten. Libyen verfügt weder über Armee noch Polizei. Seit dem Fall von Muammar al-Gaddafi sind die vorhandenen Waffen und die Militarisierung der Gesellschaft eine Gefahr für jede neue Macht.
Welche Perspektive gibt es für Syrien?
Syrien befindet sich in einer Sackgasse. Die wichtigen Akteure des Konflikts sind nicht nur Bashar al-Assad und die syrische Opposition. Russland, Iran und Irak spielen auf der einen Seite eine grosse Rolle; Saudi-Arabien, Katar, die USA und Europa auf der anderen. Für Letztere ist der Fall von Bashar al-Assad aus strategischen Gründen von Interesse: Syrien ist einer der letzten Verbündeten des Irans in der ganzen Region. Zurzeit gelingt es der Opposition nicht, die Machthaber in ihrer Hochburg in Damaskus zu schlagen. Und das Regime kann die verlorenen Gebiete nicht zurückerobern. Die internationale Gemeinschaft handelt nicht kongruent. Zwar heisst es, dass Assad vor dem Internationalen Strafgerichtshof zur Verantwortung gezogen werden müsse. Gleichzeitig nominiert der Uno-Sicherheitsrat zwei Sondergesandte, um mit ihm eine politische Lösung auszuhandeln.
Hat der Westen in diesem Kontext nicht alles Interesse, die Augen vor der Repression zu verschliessen, solange sie Stabilität garantiert?
Genau das macht er seit der Entkolonisierung. Die westlichen Staaten haben mit autoritären Regimen verhandelt, weil diese eine gewisse Stabilität boten und die Versorgung mit Öl oder Gas sicherstellten. In letzter Zeit beteiligten sich diese Regime auch am «Krieg gegen den Terror». Die gestürzten Regierungen haben dieses Pflichtenheft aufs Schönste erfüllt. Derzeit setzen die Amerikaner darauf, dass die Armee in Ägypten für Stabilität sorgen kann, und lassen ihr gewichtige Mittel zukommen. Die US-Regierung sorgt sich vor allem um die Beziehungen zu Israel und die Situation des Gazastreifens. Die Islamisten wollen sich als stabile Regierung zeigen, die fähig ist, die Sicherheit Israels zu schützen. So möchten sie ihre Stellung stärken. In Ägypten führen immer noch die gleichen Leute die Verhandlungen mit Israel wie unter Hosni Mubarak.
Sind Sie optimistisch?
Die arabische Welt befindet sich heute in einem dritten historischen Zyklus, der sehr wichtig ist. Der erste war die Kolonisierung, der zweite die Entkolonisierung und die nachfolgenden autoritären Regimes, deren Schwächen deutlich zu Tage getreten sind. Dass die Ägypter und die Tunesier auf die Strasse gehen und eine Gegenmacht zu den Islamisten und der Armee bilden, zeigt, dass sie an einem «Point of no return» angelangt sind.
So arbeitet Amnesty vor Ort
Seit Beginn des Arabischen Frühlings hat der Hauptsitz von Amnesty International über 60 Berichte zu verschiedenen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens herausgegeben. Die Organisation ist mit Sektionen in Algerien, Israel, Marokko und Tunesien präsent. Amnesty-Mitarbeitende reisen regelmässig in verschiedene Länder der Region, recherchieren über Menschenrechtsverletzungen, sprechen mit Betroffenen, anderen Organisationen und den Regierungen. Üblicherweise beantragt die Organisation für diese «Fact-Finding-Missions » Einreisevisa. Eine Ausnahme bildete vergangenes Jahr Syrien, wohin die Amnesty-Krisenbeauftragte Donatella Rovera ohne Zustimmung der Regierung reiste. Es war aussichtslos, vom Assad-Regime ein Visum zu erhalten; Amnesty International erachtete es aber als wichtig, die grauenhaften Vorgänge vor Ort zu untersuchen und der Welt mitzuteilen, was in Syrien geschieht.
Interview: Nadia Boehlen
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von Mai 2013.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion