Am 4. Januar 2011 starb der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, nachdem er sich am 17. Dezember 2010 aus Protest gegen die schikanöse Behandlung durch die Polizei und gegen die misslichen Lebensbedingungen im tunesischen Hinterland selbst verbrannt hatte. Bouazizis Selbstverbrennung gilt gemeinhin als Auslöser der Proteste, die am 14. Januar 2011 zum Sturz des langjährigen Herrschers Zine el-Abidine Ben Ali führten.
AktivistInnen aus dem «Bassin minier» von Gafsa und Redeyef wie die Gewerkschafterin Fatma Dhaouadi und der Journalist und Menschenrechtsverteidiger Fahem Boukaddous erzählen die Geschichte etwas anders: In Gafsa und Redeyef, im Zentrum Tunesiens, werden Phosphate abgebaut, das Hauptexportgut des Landes. Dort liegt für Dhaouadi und Boukaddous die Keimzelle des Arabischen Frühlings: 2008 schrieb die staatliche Compagnie des phosphates de Gafsa 300 Stellen aus. In einem undurchsichtigen Auswahlverfahren wurden aber kaum Leute aus der Region berücksichtigt. Proteste flammten auf und die Eisenbahnlinie zum Hafen von Sfax wurde während sechs Monaten blockiert.
Präsident Zine el-Abidine Ben Ali liess die Blockade schliesslich militärisch beenden. 3 Personen wurden getötet, mehr als 300 verhaftet. Pikantes Detail und Beispiel für das Herrschaftssystem Ben Alis, ein quasimafiöses Konstrukt aus Korruption, Patronage und Repression: Die Gewerkschaft UGTT beteiligte sich nicht an den Protesten. Der lokale Gewerkschaftsboss war in der Regierungspartei RDC und gleichzeitig direkt an verschiedenen Verträgen beteiligt, mit welchen die Minengesellschaft diverse Dienstleistungen auslagerte. Vor diesem Hintergrund erschallte 2008 in Gafsa erstmals der Ruf nach Arbeit, Würde und Freiheit, der bei der Revolution 2010/2011 wieder aufgenommen werden sollte.
Bedrohte Meinungsfreiheit
Der bleierne Deckel über der Zivilgesellschaft und die allgegenwärtige Angst der Ära Ben Ali sind weg: Es gibt Hunderte politischer und zivilgesellschaftlicher Akteure, die sich auch lautstark äussern. Sit-ins und Demonstrationen sind an der Tagesordnung. Allerdings: Viele Revolutionäre der ersten Stunde beklagen, dass klare politische Programme als Alternative zur islamistischen Agenda der regierenden Ennahda-Partei fehlen. Stattdessen nehmen von islamistischer Seite aus taktischen Gründen lancierte Dispute über religiös-gesellschaftliche Fragen wie Polygamie oder Mädchenbeschneidung grossen Raum ein – es besteht der Verdacht, dass damit von den viel brennenderen sozialen Themen abgelenkt und das «Koordinatensystem» in der laufenden Verfassungsdiskussion verschoben werden soll.
Die grösste Gefahr droht jedoch aus Tendenzen, die Meinungsfreiheit unter dem Vorwand der Religion und der Ehre von Staat und Amtsträgern (wieder) einzuschränken: Die von der Ennahda-Partei dominierte tunesische Übergangsregierung ist nicht willens oder nicht fähig, KünstlerInnen, SchriftstellerInnen oder JournalistInnen vor gewaltsamen Übergriffen durch mutmasslich salafistische Gruppierungen zu schützen. Stattdessen greift sie zur Unterdrückung von regierungs- oder islamkritischen Stimmen zunehmend auf fragwürdige Gesetzesbestimmungen aus der Ära Ben Ali zurück. Zudem enthält auch der im Dezember 2012 präsentierte zweite Entwurf für die neue Verfassung keine umfassende Garantie für den Schutz der freien Meinungsäusserung.
Von der sozialen zur Wirtschaftskrise
Der Universitätsprofessor und Oppositionspolitiker Fathi Chamkri nimmt kein Blatt vor den Mund: «Aus der sozialen Krise, die unter der glänzenden Oberfläche von sauberen Strassen und Prestigebauten Ben Alis gärte und zu dessen Sturz führte, ist eine wirtschaftliche Krise geworden.» Die makroökonomischen Daten haben sich nach dem Absturz im Revolutionsjahr auch 2012 noch kaum erholt. Ein Viertel der Tunesierinnen und Tunesier müssen laut Chamkri mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen und sind damit offiziell arm. Die Arbeitslosenquote liegt bei 20 Prozent – gemäss Chamkri sind zusätzliche zwei Drittel unterbeschäftigt und versuchen, sich in temporären und teilzeitlichen Arbeitsverhältnissen und im informellen Sektor über Wasser zu halten.
Im «Bassin minier» von Gafsa, der Keimzelle der Revolution, standen die Minen bis vor Kurzem wegen Blockadeaktionen wieder über Monate still, um der Forderung Nachdruck zu verleihen, 20 Prozent der Erlöse aus dem Phosphatabbau in die Region selbst zu investieren. Guter Rat ist teuer in einem Umfeld, in dem die Hauptwirtschaftspartner Tunesiens, Frankreich und Italien, selbst in tiefen wirtschaftlichen Krisen stecken.
Chamkri vertritt ein auf den ersten Blick einfaches Rezept und fordert die Korrektur der offenkundigsten Fehler im System: Tunesien werde seit Jahrzehnten von einer «Offshore- Wirtschaft» dominiert, wie der Oppositionspolitiker die oft französischen Konzerne nennt, die beispielsweise Tourismus und Detailhandel kontrollieren. Rund 70 Prozent der tunesischen Exporte seien eigentlich ausländische Exporte aus Tunesien. Obwohl ihre Gewinne ins Ausland abfliessen, sind die betreffenden Unternehmen weitgehend von den Steuern befreit – auch mit Hilfe von Doppelbesteuerungsabkommen, die einseitig ihren Interessen Rechnung tragen.
Würde wiedererlangt
Mehr als zwei Jahre nach dem Sturz Ben Alis dominiert unter den damaligen Aufständischen – Vertreterinnen der Femmes démocrates oder der Tunesischen Liga für Menschenrechte etwa – Ernüchterung: Viele sagen, sie seien optimistische Menschen und glaubten daher an den Erfolg der Revolution. Und sie würden nicht aufgeben und sich nicht mehr einschüchtern lassen. Gleichzeitig liefern sie aber pessimistische Lageanalysen: Im Grunde lebten das alte System und die alte Ordnung fort, und an der ungerechten Verteilung des Kuchens habe sich nichts geändert. In vielen Bereichen – Arbeit, Sicherheit, in der Freiheit der Frauen im öffentlichen Raum – habe sich die Situation sogar verschlechtert. Vielleicht ist das, was sich im optimistischen Wesen und in der kämpferischen Haltung dieser Menschen manifestiert, gerade die Würde, die sie sich wieder erkämpft haben: Der bleierne Deckel über der tunesischen Zivilgesellschaft ist weg, ihre Energien sind freigesetzt, hoffentlich unumkehrbar und endgültig.
Ahlem Barhoumi
In Gafsa, im unwirtlichen, vernachlässigten «Bassin minier» im Herzen Tunesiens, setzt eine junge Frau – Mitglied der tunesischen Amnesty-Sektion – ein mutiges Zeichen: Begleitet von der Uno-Organisation für industrielle Entwicklung wagt sie den Schritt und gründet eine Nähfabrik für Jeans. Die Maschinen sind bereits bestellt und die Verträge mit den Abnehmern abgeschlossen. Die Rekrutierungsverfahren für 100 Angestellte laufen. Diese und ähnliche Initiativen sind mit dem Arabischen Frühling möglich geworden.
Von Reto Rufer. Er ist Länderexperte bei Amnesty International Schweiz und nahm im März 2013 am Sozialforum in Tunesien teil.