Ein aufsehenerregender Richterspruch für ganz Lateinamerika: Zum ersten Mal wurde ein Ex-Diktator vor einem einheimischen Gericht wegen Völkermordes verurteilt. Richterin Jazmín Barrios sah es als erwiesen an, dass die Ixil – eine Ethnie der Maya-Indigenen – während Ríos Montts Gewaltherrschaft von 1982 und 1983 verfolgt wurden. Sie sollten gar ausgerottet werden. Man beschuldigte alle Ixil, die Guerilla zu unterstützen. Allein die Zugehörigkeit zu dieser Ethnie galt als Verbrechen. Dafür sprechen die systematischen Vertreibungen, eine Politik der verbrannten Erde, die Tötung von Kindern, Alten und Frauen. Letztere waren der Gewalt besonders ausgesetzt.
Als Beweise dienten im Prozess schriftliche Einsatzpläne, Interviews mit Militärs aus dieser Zeit sowie Zeugenaussagen. Im Gerichtssaal kam es zu einem Tumult, als der 86-jährige General Ríos Montt abgeführt wurde. Doch der Prozess löste auch heftigen Widerstand der politischen Elite aus. So erklärte Präsident Otto Perez noch während des Verfahrens, in Guatemala habe es keinen Völkermord gegeben. Wenige Tage nach der Verurteilung annullierte das Verfassungsgericht mit drei gegen zwei Stimmen das Urteil: Ein Einspruch der Verteidiger vom 19. April sei wegen Befangenheit der Richterin und eines Beisitzers nicht ordnungsgemäss behandelt worden. Die Richter entschieden, dass der Prozess vom Moment dieses Einspruchs an neu aufgerollt werden müsse.
AMNESTY: Juan Francisco Soto, Sie haben 13 Jahre lang den Prozess vorbereitet, Beweise gesammelt und Strategien ausgearbeitet. Was waren die grössten Schwierigkeiten, auf die Sie gestossen sind?
Juan Francisco Soto: Die Opfer haben uns kurze Zeit nach Veröffentlichung des Berichtes der guatemaltekischen Wahrheitskommission um Beistand ersucht. Im Jahr 2000 haben wir die Klage eingereicht, doch dann ist lange nichts passiert. Die Staatsanwaltschaft hat nicht ermittelt, weshalb wir die ganzen Beweise selbst zusammentragen mussten. Der Staat hatte kein Interesse daran. Im Jahr 2006 bekamen wir Besuch von spanischen Staatsanwälten, die damals angefangen hatten, Menschenrechtsverbrechen in Lateinamerika zu untersuchen. Das hat unserer Klage und der juristischen Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen mehr Aufmerksamkeit verschafft. Aber erst 2009 – unter einem neuen Staatsanwalt – wurde von staatlicher Seite Nachforschungen angestellt. In dieser Zeit erhielten die Zeugen und auch wir erste Drohungen.
Lange sah es ja so aus, als würde der Prozess versanden...
Der Prozess hat beide Facetten der guatemaltekischen Justiz gezeigt. Einerseits haben die Verteidiger eine klare Obstruktionsstrategie gefahren. Und das hat oft genug funktioniert, denn unser Justizsystem bietet genügend Möglichkeiten, Prozesse mit Eingaben zu verhindern oder endlos hinauszuzögern. Allein 2012 haben die Verteidiger mehr als hundert Rechtsmittel ausgeschöpft! Die Annullierung durch das Verfassungsgericht enthüllt ebenfalls, dass in Guatemala Straffreiheit herrscht. Andererseits hat der Prozess gezeigt, dass man auch hier Recht sprechen kann, wenn der Wille dazu vorhanden ist.
Was steckt hinter der Annullierung durch das Verfassungsgericht?
Abgesehen von den formalen Argumenten, bildete der Vorwurf Völkermord den Stein des Anstosses; das hat mit dem latenten Rassismus in unserer Gesellschaft zu tun. In Guatemala hat keine ernsthafte Debatte über dieses Thema stattgefunden, vielmehr fühlte sich die Elite dadurch angegriffen. Auch Präsident Perez lehnte den Begriff «Völkermord» ab, was wir sehr bedauern und als politische Einmischung in ein Gerichtsverfahren sehen. Andere argumentieren, man müsse auch die Guerilleros wegen Menschenrechtsverbrechen vor Gericht stellen. Was wir im Übrigen befürworten. Interessant ist aber, dass niemand behauptet hat, Ríos Montt sei unschuldig.
Und wie geht es nun weiter?
Laut Richterspruch muss ein Teil des Prozesses wiederholt werden. Das kann aber nicht jene Kammer tun, die das Urteil fällte. Nun muss eine andere Kammer weitermachen. Diese hat jedoch keine Ahnung von all dem, was vorher passierte, vor allem von den Zeugenaussagen. Deshalb müsste eigentlich die ganze mündliche Verhandlung neu stattfinden. Das Verfassungsgericht hat da ein ziemliches Chaos angerichtet. Deshalb gibt es jetzt wieder eine Menge Rechtsmittel, und die Wiederaufnahme wird wohl noch etwas dauern. Aus unserer Sicht ist das eine Farce. Die Justiz verhöhnt die Opfer und macht Guatemala unglaubwürdig.
Wie haben die Opfer, die Ixil-Indigenas, die Aufhebung des Prozesses aufgenommen?
Für sie ist das problematisch, denn der Bürgerkrieg hat die Indigenas der Region gespalten. Die Opfer, die den Mut hatten, eine Aussage zu machen, sind durch die Annullierung leichter angreifbar. Für uns ist es aber keine Niederlage. Denn letztlich wurde der Prozess nicht mangels Beweisen annulliert, sondern aus rein formalen Gründen. Der Völkermord hat also stattgefunden.
Werden denn die Rechte der Indigenas heute respektiert, oder setzt sich die rassistische Logik des Bürgerkriegs fort?
Bis heute werden ihre Rechte missachtet, zum Beispiel bei grossen Staudamm- oder Bergbauprojekten. Obwohl die indigene Bevölkerung dazu vorher befragt werden müsste, wird sie einfach übergangen, oder ihr Veto wird nicht beachtet.
Was hat der Prozess in der Gesellschaft bewirkt?
Er war wegweisend, denn erst durch ihn hat Guatemala begonnen, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Viele Jahre lang stritten grosse Teile der Gesellschaft die schlimmen Verbrechen ab, die im Bürgerkrieg verübt wurden. Durch den Prozess war die Vergangenheit in allen Medien, man konnte die Zeugenaussagen sogar live anhören. Darüber zu reden, ist aus unserer Sicht Voraussetzung dafür, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen. Deshalb war der Prozess für uns ein wichtiger Schritt hin zu einer friedlicheren und gerechteren Gesellschaft.
Von Sandra Weiss. Sie ist freie Journalistin in Mexiko.
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von August 2013.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion