MAGAZIN AMNESTY Kultur «Ich war nie ein Parteigänger»

Der Künstler Hans Erni hat sich in seinem umfangreichen Werk immer wieder mit den Menschenrechten beschäftigt. Der 104-Jährige spricht im Interview über die eigene Erfahrung der Ausgrenzung und die Notwendigkeit, nach vorn zu blicken.

Hans Erni Hans Erni: «Ich lebe nicht von den Ansichten anderer.» © AI

Amnesty: Was können Sie mit Ihrer Kunst über den Frieden und die Menschenrechte besser ausdrücken als mit Worten?

Hans Erni: Kunst müsste ganz allgemein den Frieden umfassen und die Forderung, dass jeder Mensch alle seine Möglichkeiten zum Ausdruck bringen kann. Niemand darf daran gehindert werden, eine Wahrheit zu sagen.

Wie sieht Ihre Vision einer friedlichen Welt aus?

Wenn man wüsste, wie der Frieden wirklich erreicht werden kann, dann wäre er Wirklichkeit. Aber der Mensch ist ja so veranlagt, dass er oft seinen Willen mit Waffen kund tut. Unterschiedliche Ansichten sollten jedoch dialektisch gelöst werden: Der Rede muss eine Gegenrede entgegengestellt und aus beidem schliesslich eine Synthese gezogen werden. Ich wäre glücklich, wenn meine Werke etwas ausstrahlen würden, das den Menschen innerlich anregt, die Philosophie von These, Antithese und Synthese zu leben.

Sie haben vor dem Uno-Gebäude in Genf, wo auch der Menschenrechtsrat seinen Sitz hat, ein Wandbild gestaltet. Welche Beziehung haben Sie zur Stadt Genf?

Genf ist ein Eingangstor für internationale Ideen. Dort kommt die grosse Welt in die kleine Schweiz. Darin liegt die Kraft von Genf.

Sie wurden selbst phasenweise ausgegrenzt, fichiert und als «Kommunist» beschimpft. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Es ist für mich schwierig, darüber zu sprechen. Ich habe immer versucht, soziale Ideen zu verwirklichen. Doch ich war nie ein Parteigänger. Denn jeder Partei sind Limiten gegeben, und ich will keine Grenzen in den Fragen, die mich beschäftigen. Jede Partei hat Statuten, die ich ständig brechen müsste. Doch ich konnte diesen Lebensabschnitt überwinden, während dem ich vom bürgerlichen Leben ausgeschaltet wurde. Nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie war es eine prägende Erfahrung, dass Menschen in einer Gemeinschaft in der Lage sind, jemanden so auszugrenzen. Meine Frau wurde beispielsweise nicht mehr gegrüsst. Eine Gruppe von Leuten kann also mit Leichtigkeit in einem falschen Verhältnis zum Menschsein stehen. Das sollte nicht sein.

Sie wurden seither rehabilitiert.

More or less... (lacht). Mir spielt dies keine Rolle. Ich lebe nicht von den Ansichten anderer. Ich möchte vielmehr eine vernünftige Gemeinschaft schaffen. Doch wenn Sie in Ihrem Menschsein negativ berührt werden, hinterlässt das Spuren. Es drängt Sie, das Gegenteil herbeizuführen. Kein Einzelner ist allein, sondern immer in der Abhängigkeit von der Gesellschaft. Sich einzufügen in schöne gesellschaftliche Verhältnisse, das sollte eine Zielsetzung sein.

Trotz dieser schwierigen Erfahrungen bezeichnen Sie sich als Patriot.

Ich bin ein eidgenössischer Patriot. Die Eidgenossenschaft besteht ja aus vielen Staaten mit eigener Regierung. Sie alle können ihre Rechte behaupten. Das ist ein leuchtendes Beispiel. Ich habe viele Länder bereist, aber ich möchte in keinem anderen Staat leben. Selbst wenn ich immer noch kämpfen müsste, dass ich heute das tun kann, was ich tue.

Welche aktuellen politischen Entwicklungen bereiten Ihnen Sorge oder Freude?

Ich will namentlich keine Länder nennen. Denn viele Staaten sehen ja in einem Jahr so aus und im nächsten Jahr wieder anders, je nach aktuellem Vorsteher. In der Schweiz gehen Machtwechsel friedlich vor sich, das ist ihre grosse Stärke.

Vor einigen Jahrzehnten wurden die Kommunisten verwünscht. Grenzen wir heute andere Gruppen aus?

Auch heute werden Sie streng genommen noch als gefährlicher Mensch angeschaut, wenn Sie sich im Sinne eines Kommunisten äussern. Trotzdem sollte die Politik ein Gemeinschaftsgefühl anstreben. Die Gesundheit einer Gesellschaft sollte nicht von der Geldmacherei der Wirtschaft abhängen.

Sie blicken auf ein langes Leben zurück, haben zwei Weltkriege erlebt. Was hat Sie am meisten geprägt?

Es war ein grässliches Jahrhundert, von Gewalt und Kriegen bestimmt. Trotzdem bin ich natürlich froh, gelebt zu haben. Wenn Sie eine Aufgabe haben, die der Würde des Lebens entspricht, dann sollten Sie diese Aufgabe jeden Tag erfüllen. Bei mir geschieht dies hier auf der Leinwand, mit den Mitteln des Malens. Ein anderer verwendet vielleicht das Wort oder die Musik.
Ich habe immer nach vorn geschaut. Den Ausspruch, man solle stets so leben, wie wenn es der letzte Tag wäre, finde ich kompletten Unsinn. Was immer Sie verwirklichen: Es darf nicht zum Hindernis für eine zukünftige Entwicklung werden. Wenn man das Leben ab und zu aus grosser Distanz betrachtet, dann merkt man, in welch kleinem Umfeld man selbst existiert.

Was muss Amnesty International tun, um Werte wie Freiheit und Würde zu verteidigen?

Der Name Amnesty International bedeutet für mich, dass alle politisch unterdrückten Menschen in allen Ländern Freiheit erhalten sollen. Dieser Name ist eine Herausforderung. Amnesty ist eine Organisation für alle, die für eine menschenwürdige Gesellschaft kämpfen.

Interview: Carole Scheidegger


Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von August 2013.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion