Eingenebelt: Proteste in Istanbul. © NarPhotos
Eingenebelt: Proteste in Istanbul. © NarPhotos

MAGAZIN AMNESTY Türkei Beben am Bosporus

Die Türkei schien sich auf dem Weg hin zu mehr Demokratie zu befinden. Doch die Proteste im ganzen Land zeigen, dass Erdogans wohlklingende Reformen nicht greifen. Stattdessen spielt sich der Regierungschef jetzt als selbst ernannter Moralhüter auf. Die Demonstrierenden haben genug von Alkoholverboten und der willfährigen Justiz. Zu ihrem ironischen Symbol machten sie den Pinguin, den ein staatshöriger Fernsehsender wichtiger fand als die Proteste. Jetzt droht den Aufmüpfigen aber die Kriminalisierung.

Seit dem 1. Juni brodelt es in der Türkei. Bunt durchmischte Gruppen protestieren und diskutieren auf zentralen Plätzen. Auch die brachiale Polizeigewalt konnte sie bislang nicht davon abhalten. Lieder, Graffiti und Strassentheater beseelen die Stimmung der Proteste rund um den kleinen Istanbuler Gezi-Park. Der Pinguin ist zu einem Symbol der Bewegung geworden. Denn als die Proteste Anfang Juni eskalierten, strahlte der Nachrichtensender CNN Türk eine Tierdokumentation über Pinguine aus, statt die aktuellen Geschehnisse zu zeigen. Dass einflussreiche türkische Medien die aktuelle Krise während der ersten beiden Wochen negierten, vermochte das Gebäude aus Angst und Schrecken definitiv zum Einsturz zu bringen. Ein Gebäude, das die türkische Regierung in den vergangenen Jahren errichtet hat. Es steht in einem Garten voller künstlicher Blumen, den die regierende Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) Reformpolitik nennt. Als Gärtner fungieren regierungstreue Polizeikräfte, ein entmachtetes Militär, eine korrupte Justiz und weitgehend kontrollierte Medien. Sie tragen nichts dazu bei, Pluralismus herzustellen. Die AKP hat seit 2004 zwar beachtliche juristische Gesetzesänderungen und Reformen verabschiedet, nur hat sie diese in entscheidenden Punkten nicht umgesetzt.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan rückt nicht Menschen-, Frauen- und Minderheitenrechte in den Fokus der Reformpolitik. Lieber ernennt sich der türkische Regierungschef auf Nebenschauplätzen zum Hüter einer konstruierten Volksmoral. Vor einem Jahr drohte er, das Abtreibungsrecht abzuschaffen. Dann veranlasste er die Istanbuler Stadtverwaltung, in Vierteln wie dem liberalen Beyoglu das Aufstellen von Tischen und Stühlen vor Lokalen mit Alkoholausschank zu unterbinden. Diese Einschränkungen im Alltag haben breite Schichten der Bevölkerung aufgebracht, denn die AKP hatte zuvor viel Hoffnung auf eine lange erwartete fundamentale Demokratisierung und Liberalisierung geweckt.

Ende Mai wollten die Behörden mit einem Gesetzesentwurf den Ausschank von Alkohol reglementieren und vertrieben mit Gewalt UmweltschützerInnen aus dem kleinen Gezi-Park. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Der Volkszorn richtet sich seitdem auch gegen die Strafverfolgung und Schikane von Journalisten, Schriftstellerinnen, Musikern, Filmproduzentinnen, Theatermachern, Politikern, Studierenden und Angehörigen der zurückgedrängten kemalistischen Staatsbürokratie, wie etwa zahlreiche Offiziere, die sich den Prinzipien des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk verbunden fühlen.

Erdogan bleibt hart

Die Unterdrückung der friedlichen Proteste belegt die despotischen Seiten der sich immer mehr isolierenden Staatsmacht in Ankara. Ministerpräsident Erdogan erklärte während der Proteste mehrfach, es sei legitim, jede Form von Staatsgewalt gegen all jene einzusetzen, die gegen seine Regierung opponieren. Ungeachtet der Todesfälle und der grossen Anzahl von Verletzten, die er mit dieser Aussage zu verantworten hat.

Der Arbeiter Ethem Sarisülük etwa demonstrierte am 1. Juni im Stadtviertel Kizilay im Zentrum von Ankara. Die Demonstranten und Demonstrantinnen wehrten sich dort gegen einen brutalen Reizgasangriff der Polizei. Sie warfen die Gaskartuschen zurück. Als die Beamten schliesslich mit scharfer Munition schossen, sank der 27-jährige Sarisülük getroffen zu Boden. Die Behörden behaupteten anschliessend, vermutlich habe ein Steinwurf den jungen Mann verletzt. Die Polizei in Ankara dementierte ausdrücklich, dass eine Schusswaffe im Spiel war. Zwei Wochen später starb Ethem Sarisülük. Bei der Autopsie wurde eine 9-mm-Kugel aus seinem Hirn entfernt. Sie stammt aus der Waffe eines Polizisten, der aber gemäss einer Blitzentscheidung des Gerichtes aus Notwehr gehandelt haben soll. Dabei zeigen Videoaufnahmen, dass Ethem Sarisülükr mehrere Meter vom schiessenden Polizisten entfernt stand und keine akute Bedrohung darstellte. Den Machthabern scheint jedes Mittel recht, um die eigene skrupellose Gewaltbereitschaft zu vertuschen.

Augenzeugen berichten von der Eskalation am 11. Juni, als die Polizei den Gezi-Park gewaltsam von randalierenden, Steine werfenden Demonstranten räumte. Viel deutet darauf hin, dass Provokateure der Polizei die Ausschreitungen verursacht haben, um deren hartes Durchgreifen zu rechtfertigen. Fotos aus den Archiven der Gezi-Protestbewegung zeigen Vermummte mit Sprechfunkgeräten und Pistolen am Gürtel – Markenzeichen der Zivilpolizei. Die Polizei hielt sich am 11. Juni gegenüber diesen gewalttätigen Hooligans auffällig zurück. Ganz anders gingen die Sicherheitskräfte an anderen Tagen gegen friedlich Protestierende vor. Polizisten, die mit ihren Druckluftgewehren nicht in die Luft, sondern direkt auf die Demonstrierenden Reizgaskartuschen abfeuern, sind auf einer Vielzahl von Fotos dokumentiert worden.

Ein Team der Istanbuler Anwaltskammer sammelt derzeit alle diese Indizien für mögliche Menschenrechtsverletzungen rund um die Gezi-Park- Proteste. Dazu gehört auch die Verhaftung von Anwälten und Ärztinnen während der Proteste. Der Präsident der türkischen Anwaltskammer, Metin Feyzioglu, erklärte nach der Festnahme von fünfzig friedlich demonstrierenden Anwälten: «Hier werden nicht nur die Rechte unserer Kollegen, sondern hier werden die Grundlagen der türkischen Justiz mit Füssen getreten.» Der türkische Gesundheits- und der Innenminister hatte während der Ausschreitungen verkündet, Ärzte und Anwältinnen machten sich strafbar, wenn sie DemonstrantInnen medizinisch versorgen oder juristisch vertreten. Eine auf keinerlei Rechtsgrundlage basierende Überschreitung jeglicher staatlicher Kompetenz. Sie ist leider auch Ausdruck eines Gefühls der Allmacht türkischer Regierungsvertreter.

Verheerende Zahlen

Die türkische Ärztekammer veröffentlichte am 15. Juli eine fürchterliche Bilanz der Protestwelle: 8163 in Krankenhäusern behandelte Verletzte im ganzen Land, davon 63 Schwerverletzte. 5 tote Demonstranten und 1 toter Polizist, 13 Menschen haben ihr Augenlicht durch Gasgranaten verloren, 22 erlitten einen Schädelbruch. Es gibt Berichte über schwere Misshandlungen an einzelnen Demonstrierenden und sexuelle Übergriffe durch Beamte und Zivilpolizisten. Viele der Tausenden von Festgenommen wurden aufgrund der Überforderung von Polizei und Gerichten über einen zu langen Zeitraum festgehalten, ohne dass ihre Grundversorgung mit Lebensmitteln und Wasser gewährleistet war. Konsequenzen wird das aber zunächst nur für die Leidtragenden haben.

Die türkische Anwaltskammer hat die Öffentlichkeit alarmiert, dass in Kürze gegen viele der Festgenommenen wegen «Gründung oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung» Anklage erhoben wird. Das ist die übliche Kriminalisierungspolitik. Sie trifft hier auf einen breiten Querschnitt der Bevölkerung: NGO- Vertreter, Ärztinnen, Rechtsanwälte, Hochschullehrerinnen, Studierende, Künstler, Musikerinnen und Fussballfans.

Der Verband der Journalisten erklärte am 15. Juli, dass innert 6 Wochen 111 JournalistInnen verletzt und festgenommen worden seien. Die Rundfunkbehörde RTÜK verhängte eine Geldstrafe von umgerechnet 1500 Franken gegen die regierungskritischen Fernsehsender Halk TV, Ulusal TV, Cem TV und EM TV. Sie hatten unzensiert über die Proteste berichtet. Der Vorwurf an die Sender: Sie würden die «geistige und moralische Entwicklung» junger Menschen gefährden. Die Medien der radikalen Linken wurden durchsucht, ohne dass irgendwelche Hinweise auf illegale Aktivitäten hätten nachgewiesen werden können. Der Chefredaktor des linken Özgür Radyo, Önder Öner, betont, dass in den vergangenen Jahren kein Einschüchterungsversuch ausgelassen worden sei. Insgesamt hatte seine Station drei Jahre Sendeverbot. Die Redaktion des kleinen Senders arbeite mittlerweile «mit der Schere im Kopf», zensiere sich also selbst.

Dass die autoritäre Haltung der Machthaber ganze Biografien zerstört, zeigt das Schicksal von Füsun Erdogan. Die ehemalige Chefredaktorin von Özgür Radyo sitzt seit fast sieben Jahren in Untersuchungshaft. Ihr wird Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Der Journalistin konnte aber bislang trotz intensiver Versuche der Staatsanwaltschaft keine konkrete Straftat nachgewiesen werden. Füsun Erdogan ist mittlerweile schwer erkrankt. Eine Haftentlassung wurde am 4. Juni erneut abgelehnt, obwohl eine notwendige Behandlung in Haft nicht möglich ist. Die Schwester der Inhaftierten sprach nach der Gerichtsverhandlung von juristischem Mord. Es ist offenkundig, dass die türkische Justiz die versprochenen Reformen verschleppt. Stattdessen ermittelt und vorverurteilt sie noch immer ganz so, wie es in ihre Ideologie passt.

Von Sabine Küper-Büsch. Sie ist Journalistin und lebt in Istanbul.


Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von August 2013.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion