Lassen Sie manchmal Ihr Handy zu Hause? Interessieren Sie sich für die Armutsdebatte in Europa und recherchieren dazu im Internet? Möchten Sie eine Vorlesung zum Thema «Internationales Recht, Sicherheit und Terrorismus» besuchen? Dann könnten Sie unter Terrorismus-Verdacht geraten.
So widerfuhr es Rizwaan Sabir. Der britische Student wurde 2008 unter dem Verdacht festgenommen, einen Anschlag vorzubereiten, weil er für seine Terrorismus- Studien ein Al-Kaida-Handbuch von der Website des US-Justizministeriums heruntergeladen hatte. In den Verhören wurde der Muslim unter anderem gefragt, was er von Osama bin Laden halte oder ob er (in Anspielung auf Terroristen- Ausbildungslager) gerne zelten gehe. Sechs Tage blieb er in Haft. Rehabilitiert ist er bis heute nicht, da die Freilassung aus «Mangel an Beweisen» erfolgte.
Sabirs Schicksal ist einer von diversen Fällen aus Grossbritannien, Deutschland und Frankreich, welche die Filmemacherin Marita Neher in ihrem Buch schildert. Allen Betroffenen ist gemeinsam, dass sie als «Terrorverdächtige » zum Teil in wochenlanger Untersuchungshaft bleiben mussten. Anstelle von Beweisen reichte den Ermittlern ein diffuses Verdachtsprofil. Zum Beispiel: Junger Mann, Muslim, häufiger Moscheebesuch, Wissenschaftler, Besuch von islamistischen Internetforen, klandestines Verhalten (ausgeschaltetes Handy), Gegner des Afghanistan-Krieges.
Neher, die für das Buch ihre 2011 ausgestrahlte Dokumentation «Freiheit oder Sicherheit» ausgebaut hat, ist nach ihren Interviews zur Überzeugung gelangt, dass unrechtmässige Festnahmen und zweifelhafte Verfahren auch in westeuropäischen Demokratien möglich sind, wenn es um den Vorwurf des Terrorismus geht. Eindrücklich gelingt es ihr aufzuzeigen, dass dem einzelnen Verdächtigen ein Konglomerat aus Polizeiabteilungen, Geheimdiensten, Koordinationsgremien und Forschungsgruppen gegenübersteht. Diese stehen unter Druck, «Ergebnisse» vorzuweisen, um sich selbst zu legitimieren.
Als roter Faden durch das Buch zieht sich der Appell der Autorin, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit vor einem überbordenden Sicherheitswahn zu schützen. «Wir sollten aufpassen, dass wir uns in unserem Krieg gegen den Terror nicht die Ziele etwa der Salafisten zu eigen machen und selbst eine ‹völlige Umgestaltung der Gesellschaft› betreiben», warnt sie. Ihre deutliche und glaubwürdige Parteinahme für die Menschen- und Grundrechte lassen darüber hinwegsehen, dass Neher manchmal thematisch ausfranst, teilweise schwerfällig formuliert und beim Thema «Sicherheitsindustrie » eher oberflächlich bleibt. Einen guten Ausgangspunkt für die weitere Lektüre bildet das mit einem umfangreichen Quellenverzeichnis ausgestattete Buch allemal.
Von Boris Bögli
Marita Neher: Albtraum Sicherheit. Interessen und Geschäfte hinter der Sicherheitspolitik. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2013. Ca. Fr. 25.90.