Amnesty: Wie haben sich die Beziehungen der westlichen Staaten zu Russland seit der Wiederwahl von Wladimir Putin im Frühling 2012 entwickelt?
François Nordmann: Die Menschenrechtssituation und das politische Leben haben sich in der russischen Föderation verschlechtert. Die Industriestaaten versuchen als Partner Russlands den allgemeinen Rahmen ihrer Beziehungen zu Moskau aufrechtzuerhalten, zeigen sich aber besorgt über die Entwicklungen. Russland hat öfter geltend gemacht, dass es seine Institutionen reformieren müsse, um seinen Verpflichtungen gegenüber den Menschenrechten nachkommen zu können. Doch es herrscht der Eindruck, dass sich die Anstrengungen in diese Richtung verlangsamt haben. Die Positionen Russlands nehmen manchmal eine anti-westliche Tendenz ein. Wegen der Krise in Syrien kam es gar zu einem Bruch, der die Uno paralysiert. Die Resolution des Sicherheitsrats zu den Chemiewaffen Syriens weist darauf hin, dass eine bessere Verständigung für die Lösung des Konflikts gesucht wird. Aber es gibt immer noch viele Hindernisse, und das Misstrauen gegenüber den russischen Positionen ist noch keineswegs überwunden. Bei den Vereinigten Staaten hat sich die Snowden-Affäre nicht gerade vertrauensbildend ausgewirkt und hat einen Rückschlag im Dialog zwischen den beiden Ländern verursacht.
Welches ist der Handlungsspielraum Russlands auf internationaler Ebene?
Die Regierungspartei Russlands und ihre gesellschaftlichen Stützpfeiler bauen in ihrem Widerstand gegen die Modernisierung auf die autoritären und konservativen Traditionen des Landes. Mit seinem grossen eurasischen Territorium kann Russland seinen Einfluss auch in anderen Regionen der Welt geltend machen und in die sicherheits- und wirtschaftspolitische Waagschale werfen – im Sinne eines Wettkampfs, ja fast schon einer Feindschaft gegenüber westlichen Positionen. Diese Ambitionen Russlands kollidieren allerdings mit Chinas Einfluss in Fernost.
Russland spielt für die Energiesicherheit Europas eine wichtige Rolle – wie beherrscht dies die Beziehungen mit dem Kreml?
Es wäre zu einfach, die Beziehungen nur unter dem Aspekt des Handels mit Gas und Petrol zu betrachten. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion versuchen die europäischen Staaten, eine Partnerschaft mit Russland aufzubauen und das Land in einen Austausch einzubeziehen, der sich durch die Globalisierung ergibt. Sei es bei der Klimaveränderung, bei wirtschaftlichen Beziehungen, beim Kampf gegen den Terrorismus oder bei Fragen rund um das Funktionieren der Uno: Russland ist ein wichtiger Akteur. Die Liberalisierung und Modernisierung der russischen Institutionen, das Einhalten demokratischer Spielregeln und der Menschenrechte wie auch die Erdöllieferungen müssen in diesem strategischen Zusammenhang verstanden werden.
Man hat Russland in europäischen Institutionen wie den Europarat oder den europäischen Menschenrechtsgerichtshof eingebunden – will Europa damit seinen Einfluss auf Russland aufrechterhalten?
Der Beitritt Russlands zur europäischen Menschenrechtskonvention und zum Menschenrechtsgerichtshof erfolgte nur nach grossem Zögern – man zweifelte an der Fähigkeit des neuen Mitglieds, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Die Mitgliedschaft ist ein Hebel, um die Ziele und Verfahren der Menschenrechtskonvention zu verfolgen. Die Reaktion Russlands auf Vorstösse in Menschenrechtsfragen lautet standardmässig, dass man die Institutionen, Gerichte, das Militär und die Polizei erst noch an die Ansprüche der Konvention anpassen müsse. So erstaunt es nicht, dass die Entscheide des Gerichtshofs sehr unzureichend umgesetzt werden.
Der Schweiz scheint die verschärfte Repression in Russland keine Sorgen zu bereiten.
Die Schweiz äussert sich nie öffentlich über die autoritäre Entwicklung und die Behinderung demokratischen Lebens in der russischen Föderation. Sie pflegt mit Russland besonders freundschaftliche Beziehungen: jährliche offizielle Treffen und bilaterale Konsultationen, gegenseitige Dienstleistungen – wie zum Beispiel die Unterstützung der russischen Kandidatur bei der Welthandelsorganisation WTO – und von russischer Seite her die Einladung der Schweiz an die Vorverhandlungen der G-20 in Sankt Petersburg. Die guten Beziehungen mit Russland kompensieren das teilweise gestörte Verhältnis zu gewissen europäischen Mächten oder den USA. Das heisst: Die Schweiz reserviert sich ihre Kritik zu Menschenrechtsfragen für die jährlichen bilateralen Gespräche in Moskau, die seit 2007 stattfinden, oder für adäquate internationale Gefässe, wie den Menschenrechtsrat oder die OSZE.
Die Schweiz hat allerdings Position bezogen zur Justiz und zu den Haftbedingungen in den Gefängnissen, zur Folter und zum Schicksal von Journalisten und Menschenrechtsaktivistinnen. Im Jahr 2009 verlangte sie, dass Russland alle Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrats empfangen soll.
Weshalb unterstützt Moskau das Regime von Bashar al-Assad?
Im Fall Syriens betont Russland, dass die Souveränitätsrechte und die Nichteinmischung, wie sie in der Uno-Charta definiert sind, respektiert werden müssen. Damit setzt sich Russland für das internationale Recht ein – nicht für ein bestimmtes Regime in Damaskus. Syrien liegt nahe an Russlands verletzlicher Südflanke, nah an seinen muslimisch dominierten Gebieten, in welchen es zu terroristischen Angriffen kommt. Überdies ist Russland noch immer ein gebranntes Kind wegen der Ausweitung des Schutzbereichs der NATO, die diese 2011 im Fall Libyen für sich beanspruchte. Russland will nicht Hand bieten für einen Umsturz in Syrien, der das Land in ein Chaos stürzen würde, das dann Russland ausbaden müsste. Aber Moskau fährt fort, Waffen an die syrische Regierung zu liefern, und pocht auf sein Recht, die Marinebasis im syrischen Tartus zu benutzen. Russland nimmt absichtlich eine Gegenposition zum Westen ein, beteiligt sich damit an der Blockierung des Sicherheitsrats und behindert so auch humanitäre Hilfeleistungen. Allerdings hat Russland sich mit der Genfer Deklaration vom 30. Juni 2012 einverstanden erklärt, in welchem sich die Aktionsgruppe für Syrien über die Regeln eines Machtwechsels in Syrien geeinigt hatte.
Interview: Nadia Boehlen
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von Dezember 2013.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion