Die Schweiz anerkannte die Verdienste von Carl Lutz erst spät. © Archiv für Zeitgeschichte ETH Zürich
Die Schweiz anerkannte die Verdienste von Carl Lutz erst spät. © Archiv für Zeitgeschichte ETH Zürich

MAGAZIN AMNESTY Kultur Carl Lutz: Späte Ehren

Der Schweizer Carl Lutz rettete als Vizekonsul in Budapest von 1942 bis 1945 Tausende von Juden und Jüdinnen. Seine Adoptivtochter Agnes Hirschi sorgt dafür, dass die Erinnerung an ihren geliebten Vater nicht verblasst.

Amnesty: Vor Kurzem ist ein zweites Buch über Carl Lutz erschienen. Braucht es das wirklich?
Agnes Hirschi: 1995 erschien eine historische Arbeit von Théo Tschuy. Aber bis jetzt gab es kein leicht lesbares Taschenbuch für ein breiteres Publikum. Es freut mich sehr, dass dieses Buch nun erschienen ist.

Wie konnte Ihr Vater so viele Menschen retten?
Nach der Besetzung Ungarns im März 1944 standen täglich Dutzende von Juden und Jüdinnen vor der Schweizer Gesandtschaft. Sie wollten nach Palästina auswandern. Carl Lutz hatte die Erlaubnis, 7800 Menschen ausreisen zu lassen. Aber er sah, dass dies nicht ausreichte. Deshalb wandte er eine List an: Er interpretierte diese Zahl als Einheit und sah eine Familie als eine Einheit an. Deshalb konnte er vier oder fünf Mal so viele Menschen schützen. Lange hiess es, er habe 62000 Menschen gerettet. Doch mit Blick auf heutiges Wissen scheint mir diese Zahl etwas zu hoch.

Die Rettung war riskant, oder?
Er hat häufig sein Leben riskiert, vor allem nach der Ankunft der deutschen Truppen. Damals verschlechterte sich die Situation der Juden und Jüdinnen in Ungarn massiv. Ab diesem Zeitpunkt war er sehr aktiv.

Hat Carl Lutz mit anderen Diplomaten zusammengearbeitet?
Mein Vater hat in Ungarn mit mehreren Diplomaten aus neutralen Staaten zusammengearbeitet. Raoul Wallenberg aus Schweden traf 1944 in Budapest ein. Carl Lutz teilte sein Wissen und die Dokumente mit ihm. Wallenberg ging anschliessend in gleicher Weise vor wie mein Vater. Er hatte einen offiziellen Auftrag, Juden und Jüdinnen zu retten. Im Gegensatz zu meinem Vater, der eigentlich nicht die Pflicht hatte, das zu tun.

Carl Lutz scheint in Ungarn bekannter zu sein als in der Schweiz.
Das ist leider richtig! Bei Kriegsende im Frühling 1945 kehrte er in die Schweiz zurück und rechnete mit Dankbarkeit und Anerkennung durch sein Vaterland. Aber ich muss sagen, dass er schlecht empfangen wurde, man hörte ihm nicht zu. Er hat viel Anerkennung aus dem Ausland erhalten, doch das Ansehen in der Schweiz war ihm wichtiger. Heute ist es anders. Daniel von Aarburg hat einen Dokumentarfilm produziert. Ein anderer Film, «Walking with the enemy», wird im Herbst in den USA anlaufen. Er wird zum Bekanntheitsgrad meines Vaters beitragen.

Interview: Anita Schmid

György Vámos: Carl Lutz (1895 – 1975). Schweizer Diplomat in Budapest 1944. Ein Gerechter unter den Völkern. Editions de Penthes, Genf 2013. Fr. 10.–

Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von März 2014.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion