Amnesty: Überwachung als Schutz vor einem Feind gab es schon immer in der Geschichte der Staaten. Welche Funktion hat denn ein solcher Feind?
Nicolas Tavaglione: Die Konstruktion eines Feindes eignet sich für ganz verschiedene Zwecke. Der äussere Feind, oder auch nur seine Beschwörung, kann dazu dienen, die Aufmerksamkeit von inneren Problemen abzulenken. Ein äusserer Feind hilft, eine politische Gemeinschaft zu einen und sich bedingungslose Unterstützung zu sichern. Ein innerer Feind kann dazu dienen, die Verantwortung für das Versagen einer Politik abzuwälzen – wie dies zum Beispiel im Stalinismus der Sowjetunion der Fall war. Das Versagen der Kollektivierung und der Fünfjahrespläne schob man der konterrevolutionären Sabotage durch Volksfeinde in die Schuhe.
Solche Feindbilder dienen als Vorwand oder als trojanisches Pferd, um Repressionen zu rechtfertigen, die die gesamte Bevölkerung zum Ziel haben. Sie dienen auch dazu, bestimmte soziale Gruppen zu stigmatisieren, indem diesen die Schuld für alles Schlechte gegeben wird.
Welche Auswirkungen haben die modernen Überwachungstechniken auf das Individuum, auch wenn diese Techniken in einem demokratischen Umfeld eingesetzt werden?
Es gibt Leute, die davon ausgehen, dass die demokratische Regulierung nicht ausreicht. Sie sehen in der Überwachung per se ein Problem für die Selbstbestimmung. Der fremde Einblick in mein Leben bleibt ein Aussenblick, auch wenn dieser demokratisch legitimiert ist. Die Gefahr des Verlusts der Privatsphäre bleibt bestehen. Was passiert mit mir, wenn ich weiss, dass ich dauernd observiert werde? Wir können hier nur spekulieren, doch: Es ist kaum vorstellbar, dass dies nicht Selbstzensur zur Folge hat und für ein selbstbestimmtes Leben fatal ist.
Welche Missbräuche drohen Staaten oder Unternehmen zu begehen, wenn sie Daten sammeln?
Die Daten können immer Fehler aufweisen, die aufgrund ihrer schieren Menge und der intransparenten Sammlungsmethoden kaum mehr korrigiert werden können. Die Interpretation der Daten kann voreilig oder aufgrund falscher Annahmen erfolgen. Auf der Basis solcher falschen Daten werden dann falsche Entscheide gefällt. Der Einzelne wird aufgrund von abstrakten Kategorien schubladisiert, die keinen Bezug zu seiner realen Person mehr haben. Eine kafkaeske Situation entsteht!
Das heisst, dass diese neuen Technologien eine Justiz fördern, die auf Verdacht hin urteilt und in der die Unschuldsvermutung weniger gilt?
Verschiedene Kriminologen befürchten tatsächlich eine Entwicklung in Richtung der sogenannten Pre-Crime-Logik: Es geht nicht mehr darum, auf eine Straftat nach deren Begehung zu reagieren, sondern davor, bevor das Verbrechen überhaupt geschieht. Die Anhänger dieser «intelligenten Überwachung» träumen davon, dass auf Videoaufnahmen mithilfe von Algorithmen verdächtiges Verhalten ermittelt werden kann, bevor Delikte begangen werden. Es ist klar, dass solche Projekte mit der Unschuldsvermutung kollidieren. Einige städtische Polizeibehörden in den USA haben sich Software beschafft, mit der sie «heisse Zonen» für die Wochenenden voraussagen wollen, um ihre Patrouillen in diese Gebiete schicken zu dürfen.
Ist diese Justiz auf Verdacht hin nicht genau das, was im Kampf gegen den Terrorismus bereits geschieht?
Genau. Eine grosse Zahl von Gesetzen, die seit dem 11. September eingeführt wurden, kriminalisiert zum Beispiel «vorbereitende Handlungen von terroristischen Projekten»: Geld auf ein bestimmtes Bankkonto überweisen, einen Metro-Plan kaufen, den Freund eines Freundes beherbergen etc. Die Kriminologen, welche uns vor dieser Pre-Crime-Logik warnen, machen uns nicht nur auf die künftigen Entwicklungen der Technologie aufmerksam, sondern haben dabei auch die bestehenden Anti-Terror-Gesetze im Kopf. Diese Logik wird bereits umgesetzt, der Fortschritt der technischen Überwachungsmöglichkeiten verstärkt diese Tendenz nur.
Kann man diese verstärkte Überwachung nicht durch den Willen, die Bevölkerung vor Attentaten zu schützen, rechtfertigen?
Das ist die einzige offizielle öffentliche Legitimation für Überwachung. Wenn Sie von ihren Männern geschlagene Frauen beschützen können, in dem Sie diese Männer elektronisch überwachen – was soll man da dagegen haben? Aber man muss aufpassen. Man darf nicht den Fehler begehen und von einem «Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Freiheit» ausgehen: Was macht es aus, ein bisschen Freiheit aufzugeben zugunsten von mehr Sicherheit? Es gibt keine Balance zwischen Sicherheit und Freiheit, man kann die Freiheit auch stark einschränken, ohne dabei Fortschritte für die Sicherheit zu machen.
Sie sprechen die Gefahr an, die durch die Vermehrung der Überwachungsakteure entsteht.
Die Debatten rund um Sicherheit haben die Tendenz, sich jeweils auf die Vorteile und die Risiken einer einzelnen Technologie zu konzentrieren – und dabei ihre Kombination mit anderen existierenden oder potenziellen Technologien zu vernachlässigen. Muss man Videoüberwachung akzeptieren? Soll man das Abfangen von E-Mails akzeptieren? Soll man Biometrie akzeptieren? So übersieht man die Probleme, die durch das grosse Gesamte dieser Technologien entstehen. Wenn Sie in einer Strasse gefilmt, am Telefon abgehört, beim Surfen im Internet aufgezeichnet und von Lokalisierungsgeräten auf Schritt und Tritt verfolgt werden, Ihre Kundenkarte beim Einkauf im Supermarkt ein Profil von Ihnen erstellt und wenn dann all diese gigantischen Datenmengen über Sie dank Big-Data-Techniken miteinander gekreuzt werden, dann werden Sie am Ende völlig durchsichtig – ein gläserner Mensch.
Was müssen Staaten tun, um sich vor solchen Auswüchsen der Überwachung zu wappnen?
Die erste Massnahme wäre wohl, sich nicht selbst aufgrund spekulativer Daten mit weiteren Überwachungsinstrumenten auszurüsten, nur um den WählerInnen ein modernes Sicherheitsmodell präsentieren zu können. Die zweite Massnahme läge wohl darin, die private Überwachung scharf zu regulieren. Als Drittes müsste man Kontrollbehörden einrichten und diesen die Mittel geben, um die notwendigen Kontrollen vorzunehmen. Aber am wichtigsten wäre eine ernsthafte öffentliche Debatte und eine Mobilisierung der BürgerInnen gegen solche Gefahren. Davon sind wir noch weit entfernt.
Interview: Nadia Boehlen
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von März 2014.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion