Armut trieb SüditalienerInnen in den 1960er- und 70er-Jahren zur Auswanderung. Doch die Schweizer Politik liess nicht zu, dass sie ihre Kinder mitnahmen. So wurden die Emigrierenden vor eine schmerzhafte Entscheidung gestellt: Sie mussten die Kinder entweder bei Verwandten zurücklassen, die Söhne und Töchter in einem Heim in Grenznähe unterbringen oder sie als «Touristen» in die Schweiz mitnehmen. Bei letzterer Variante wurden die Kinder nach Ablauf der erlaubten Frist in der Wohnung versteckt.
Fachleute schätzen, dass in der Schweiz etwa 10'000 versteckte Kinder lebten, und zwar in Folge des Saisonnierstatuts. Dieses wurde 1934 eingeführt und war Ausdruck einer Politik, wonach Ausländerinnen und Ausländer je nach wirtschaftlichem Bedarf ins Land geholt werden sollen. Eine dauerhafte Integration der Zugewanderten war hingegen unerwünscht. Der Familiennachzug blieb ihnen daher verwehrt.
Im Buch «Verbotene Kinder» blicken jetzt ehemalige Saisonnierkinder zurück. Sie berichten eindrücklich von der Erfahrung früher Trennung, vom Aufwachsen unter prekären Umständen in engen Wohnungen, von Isolation, überforderten Eltern und der ständigen Angst vor der Ausweisung.
«Ich hatte eine schöne Kindheit, bis man mich von Mineo in Sizilien nach Solothurn ‹dislozierte›», erzählt der heute 63-jährige Pietro. In der Schweiz verbrachte der spätere Buchhalter die erste Zeit in einem Versteck: «Hinter dem Haus war ein kleiner Garten, aber den durfte ich nicht betreten. Es war verboten. So blieb ich sechs Monate in einem Zimmer, in Gesellschaft von ausgestopften Vögeln.»
Mariella wurde gemeinsam mit der älteren Schwester in einem Heim in Domodossola untergebracht. Sie berichtet von Misshandlungen durch die Nonnen. «Mich schlugen sie jeden Tag: Ohrfeigen, Fusstritte, Faustschläge. Es war furchtbar…» Doch die Mutter wollte ihr zuerst keinen Glauben schenken, für sie waren Nonnen Heilige. Erst als Mariella krank wurde, nahm ihre Mutter sie mit in die Schweiz.
Schule beendet Isolation
Ein Lichtblick für viele italienische Kinder war der Eintritt in die Schule. Couragierte LehrerInnen nahmen auch «Illegale» in den Klassenunterricht auf. Zwar war für manche Kinder der Beginn der Schulzeit ein Schock: «Ich verstand kein Wort! Die ersten Monate sass ich da, hörte zu, sagte nichts und verstand nichts», erinnert sich Claudio Marsilii, der später Konsularbeamter wurde. Doch der Schuleintritt war eine Befreiung aus der Isolation und brachte den «Schrankkindern», wie die Saisonnierkinder auch genannt wurden, den Anschluss an ihre Altersgenossen.
Vielen ehemaligen Betroffenen ist heute bewusst, dass sich die Schrecken der Vergangenheit wiederholen könnten. Denn nach Annahme der «Masseneinwanderungs-Initiative» wird die Forderung nach Wiedereinführung von Saisonnierstatut und Familiennachzugsverbot laut…
Von Jonas Schmid
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von Juni 2014.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion