Zwischen 1915 und 1917 starben bei der Vertreibung durch das Osmanische Reich nach armenischen Angaben rund 1,5 Millionen Armenierinnen und Armenier. Der linksnationalistische Präsident der türkischen Arbeiterpartei IP, Dogu Perinçek, bezeichnete 2005 an Auftritten in der Schweiz die Charakterisierung der damaligen Ereignisse als Genozid als «internationale Lüge». Wegen Verletzung der Strafnorm gegen Rassendiskriminierung wurde er von der Waadtländer Justiz zu einer Geldstrafe verurteilt. Dies bestätigte das Bundesgericht 2007, welches es als erwiesen ansah, dass Perinçek aus rassistischen und nationalistischen Motiven gehandelt hatte. Das Bundesgericht argumentierte, dass es juristisch und historisch einen Konsens über die Qualifikation der Ereignisse von 1915–17 als Genozid gebe.
Andere Einschätzung
Der EGMR kam in seinem Urteil vom Dezember 2013 zu einem anderen Schluss als das Bundesgericht. Dieses hatte mit seinem Urteil bekräftigt, dass die Antirassismus-Strafnorm nicht nur den Holocaust, sondern auch andere Arten des Völkermordes einschliesse. Dazu gehöre auch der Genozid an den Armeniern, welchen der Nationalrat 2003 als solchen anerkannt hatte – wie 21 weitere Länder auch. Dies reichte dem EGMR jedoch nicht aus, um von einem internationalen Konsens sprechen zu können. «Der EGMR macht einen Unterschied zwischen der Leugnung des Holocausts, welche eindeutig bestraft werden darf, und jener des Völkermords an den Armeniern», erklärt Daniel Moeckli, Völkerrechts-Professor an der Universität Zürich. «Im Fall des Holocausts werden historische Fakten wie etwa die Existenz von Gaskammern geleugnet, die schon in den Nürnberger Prozessen anerkannt wurden.» Keine solche juristische Anerkennung gibt es aber im Fall des Völkermords an den ArmenierInnen. Auch wertete der EGMR die Intentionen von Perinçek anders: Es könne ihm nicht nachgewiesen werden, dass er mit seinen Reden zu Rassenhass und Diskriminierung aufrufen wollte. Die Schweiz zieht nun den Fall an die Grosse Kammer des EGMR weiter. «Die Chancen, dass diese den Fall wieder aufnimmt, sind gut, auch weil das erstinstanzliche Urteil des EGMR umstritten war», schätzt Moeckli. «Eine Neubeurteilung sehen viele als wünschenswert an, damit es eine Klärung der Frage gibt. Es ist dies ja der erste Fall einer Genozid- Leugnung vor dem EGMR, die nicht den Holocaust betrifft.»
Revision der Rassismus-Strafnorm?
Daniel Moeckli sieht aber im Urteil des EGMR – auch bei einer allfälligen Bestätigung durch die Grosse Kammer – keinen Anlass für die Aufhebung oder Revision der Strafnorm gegen Rassendiskriminierung, wie dies einige KritikerInnen des Gesetzes postulieren. So hat die SVP eine Motion mit der Forderung eingereicht, die Strafnorm ersatzlos zu streichen, da diese die Meinungsäusserungsfreiheit verletze. «Die Meinungsäusserungsfreiheit steht häufig in einem Spannungsverhältnis mit anderen Grundrechten», so Moeckli. «Die Gerichte beurteilen aber stets die Verhältnismässigkeit im Einzelfall. Der Fall Perinçek bezieht sich sowieso nur auf jenen Teil der Norm, der die Leugnung oder Verharmlosung von Genozid unter Strafe stellt. Die anderen Teile sind nicht tangiert, müssen also sicher nicht geändert oder gar gestrichen werden.»
Von Manuela Reimann Graf
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von Juni 2014.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion