Ein «Gesetz», das über 800 Millionen Menschen schützt. Und Reformen, die von Erfolg gekrönt sind. Alles scheint gut zu laufen für den EGMR. Doch: «Die Zukunft des Gerichtes vorauszusagen, ist ein heikles Unterfangen», schrieb 2010 der Gerichtsschreiber des EGMR, Michael O’Boyle. Diese Aussage bleibt aktuell. Es droht Gefahr, auch aus der Schweiz.
Sturm über Strassburg
Seit 1994 war die Institution eigentlich nie zur Ruhe gekommen. Es folgte Konferenz an Konferenz und Zusatzprotokoll um Zusatzprotokoll: Nach Interlaken (2010) und Izmir (2011) sah man sich 2012 einer neuen Herausforderung gegenüber: Die als Reformprojekte kaschierten Vorschläge Grossbritanniens für ein «besseres Funktionieren des Gerichtshofs» sollten eigentlich den Aktionsraum des Gerichtshofs einschränken. Diese Bestrebungen waren jedoch weniger erfolgreich als befürchtet. Zwar wird in den neuesten Zusatzprotokollen zur EMRK (Nr. 15 und 16) von 2013 das Subsidiaritätsprinzip der Staaten betont: Das heisst, dass diese bei der Umsetzung der EMRK eine gewisse Autonomie haben. Doch gibt Protokoll 16 den Staaten auch Instrumente in die Hand, um die Gerichtsbeschlüsse noch besser umzusetzen und künftige Konflikte mit Landesrecht zu verhindern. Beide Protokolle sind noch nicht in Kraft. Bis heute hat das Zusatzprotokoll Nr. 14 den weitreichendsten Reformeffekt: Dieses Protokoll ist 2010 in Kraft getreten und hat mit einer Anpassung der Rechtsprechung die Beschwerdeflut schon einzudämmen vermocht: Die vor dem Gerichtshof hängigen Fälle von über 160000 im Jahr 2011 konnten bis 2013 auf 115000 reduziert werden. EinzelrichterInnen können heute eine Klage allein abweisen, womit eine grosse Zahl von Beschwerden rascher abgewiesen wird – die Mehrheit der Beschwerden ist nämlich ohnehin unzulässig. Eine Steigerung der Effizienz gefährdet jedoch die Qualität der Urteile und der Einzelfallgerechtigkeit – ein Aufstocken der Ressourcen des EGMR wäre unabdingbar.
Reizwort EMRK
Die offizielle Schweiz hat die Reformen des EGMR stets unterstützt. Sie hat sich auf diplomatischer Ebene dafür eingesetzt, dass Russland als einziges Land, das das Protokoll Nr. 14 bremste, dieses am Ende doch ratifizierte. Das Bundesgericht gehört zu den «Musterschülern » der EMRK, denn es bezieht sich in seinen Urteilen häufiger direkt auf die Konvention und die Rechtsprechung des EGMR – genau so, wie es mit den Beschlüssen von Brighton beabsichtigt war. Und dennoch ist der EGMR in der Schweiz ein Reizwort. Die Medien stürzen sich geradezu auf unliebsame oder schwer umsetzbare Urteile aus Strassburg. Das wird dann von politischer Seite gerne verwendet, um die EMRK als solche anzugreifen. Selbst die den Rechtsstaat stets verteidigende FDP scheint sich von diesem Erbe verabschiedet zu haben: 2013 wartete sie mit einer eigenen Position auf, in welcher sie die Ansichten der SVP «von fremdem Recht» und «fremden Richtern» übernommen zu haben schien. Ein Sinneswandel, mit welchem sie vielleicht in der politischen Mitte punkten kann, der aber zugleich einiges über die helvetischen Gefühle gegenüber Strassburg aussagt.
Politisch unkorrekte EMRK
Europafeindliche Entgleisung oder gesunde Kritik? Ausser der SVP will niemand die EMRK wirklich aufkündigen. Auch der Bundesrat nicht, wie er in seiner Antwort auf eine Interpellation vom Mai 2013 klarmachte, als SVP-Präsident Toni Brunner die Frage nach den Folgen einer allfälligen Kündigung stellte. Die Haltung der Eidgenossenschaft ist also weit weniger kritisch als die der britischen Regierung. Aber die ehemalige Schweizer Bauernpartei hat es geschafft, die Idee wachsen zu lassen, wonach die EMRK mit der direkten Demokratie unvereinbar, ja geradezu «politisch unkorrekt» sei. Mit dem neuen Verfassungsartikel zur Ausschaffung krimineller AusländerInnen hat das Phänomen einen Höhepunkt erreicht. Was passiert, wenn dieser Artikel nun Strassburg geradezu zwingt, die Schweiz regelmässig zu verurteilen? Wird uns nichts anderes übrig bleiben, als logischerweise die EMRK aufzukündigen? Doch es geht nicht nur um die Schweiz. Wenn wir diese Büchse der Pandora öffnen, wird ein destabilisierender Wind durch Europa wehen, der den Schutz der individuellen Freiheit gefährdet.
Von Isabelle Michaud. Isabelle Michaud ist bei humanrights.ch zuständig für die Kommunikation in der Westschweiz.
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von Juni 2014.