Pro-russische Paramilitärs in Slawiansk. © E. Grynszpan
Pro-russische Paramilitärs in Slawiansk. © E. Grynszpan

MAGAZIN AMNESTY Ukraine Furcht und Manipulation

Die Bevölkerung im Osten der Ukraine ist gespalten: Manche setzen alles daran, weiterhin in einem geeinten Land zu leben. Andere sehen in Wladimir Putin den Retter der wirtschaftlich angeschlagenen Region. Die Propaganda des russischen Fernsehens, das über viele ukrainische Bildschirme flimmert, verschärft den internen Konflikt.

«Ich bin in der Ukraine geboren und will in der Ukraine leben», ruft Veronika über den ohrenbetäubenden Lärm der Handgranaten hinweg. Ihre Backen sind gelb und blau angemalt, die Farben der nationalen Flagge.

Es ist Ende April 2014, Veronika demonstriert in Donezk, der Hauptstadt des Verwaltungsgebiets Donbass im Osten der Ukraine. Plötzlich tauchen ein paar Hundert pro-russische Separatisten auf, bewaffnet mit Eisenstangen und Baseball-Schlägern. Die meisten sind maskiert. Sie rufen «Rossiya, Rossiya!» – «Russland!» – und fallen über die knapp 1'000 friedlich Demonstrierenden her, die auf der Strasse ihren Wunsch ausdrücken, weiterhin in einer geeinten Ukraine zu leben. Veronika und ihre FreundInnen bekommen es mit der Angst zu tun und rennen weg, um den Schlägen auszuweichen.

«Aber was macht denn die Polizei?», schreit Veronika ausser sich angesichts des fortgesetzten Angriffs auf die zum Teil blutenden DemonstrantInnen. 200 Polizisten einer Anti-Krawall-Einheit, die Ausschreitungen verhindern sollten, bleiben abseits stehen. Sie intervenieren nur, um ein zu Boden gegangenes Opfer zu retten, dessen Leben in Gefahr ist.

«Tod den Faschisten!», kreischen die Pro-Russen und machen weiterhin Jagd auf jene Demonstrierenden, die sich noch nicht verzogen haben. Die Polizisten nehmen keine einzige Verhaftung vor, die Demonstration endet mit 10 bis 15 Verletzten.

Veronika schluchzt schockiert. «Das sind Barbaren, Verrückte! Ich weiss nicht, wo sie herkommen und wieso sie einen solchen Hass auf die Ukraine haben», stöhnt sie und versucht, wieder zu Atem zu kommen. «Warum nennen sie uns Faschisten? Wir wollen nur unser Land schützen!»

Eine Freundin entfernt rasch die gelbe und blaue Farbe von ihrem Gesicht, um nicht neue Aggressionen zu provozieren. Veronika zittert am ganzen Körper. «Und die Polizei tut gar nichts, wie wenn sie auf deren Seite wäre!»

Moskaus Plan

«Dass die Polizei nichts macht, zeigt das gravierende strukturelle Problem bei den Sicherheitskräften auf», erklärt Igor Todorow, Professor für politische Wissenschaften an der Universität von Donezk. «Ihre Führungskräfte waren noch durch den gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch ernannt worden. Und noch heute werden sie von seinem Clan bezahlt.»

Todorow und andere ExpertInnen gehen davon aus, dass die Janukowitsch-Sippe im Einklang mit Moskau die Konflikte im Donbass anheizt. Denn die meisten von ihnen stehen kulturell Russland nahe.

Aber laut Todorow zeigten alle Umfragen in der Region, dass nur eine Minderheit einen Anschluss von Donbass an Russland befürworten würde. «Es sind nur 20 Prozent in der Region Donezk, 33 Prozent in den Städten, denen es wirtschaftlich am schlechtesten geht.» In den Bergbaustädten des Donbass ist die Unterstützung für die Separatisten am stärksten.

Trotz dieser Umfragewerte: Am 11. Mai 2014 habe sich eine überwältigende Mehrheit der EinwohnerInnen von Donezk und Luhansk für eine Abspaltung von der Ukraine ausgesprochen, erklärten die Separatistenführer nach dem Referendum. Die Regierung in Kiew hingegen erachtete diese Abstimmung als unzulässig, da die ukrainische Verfassung nur gesamtstaatliche und lokale, nicht aber regionale Volksabstimmungen zulässt. Weil keine unabhängigen BeobachterInnen an der Abstimmung zugegen waren, sind die Ergebnisse nicht überprüfbar.

«Es gibt einen soziokulturellen Aspekt, der dem Separatismus zugrunde liegt: Die Bevölkerung des Donbass wurde paternalistisch erzogen. Sie erwarten von Russland hohe Saläre und Unterstützung. Sie vertrauen nicht auf ihre eigene Kraft, sondern warten auf Hilfe von auswärts», erklärt Todorow, der im Übrigen zugibt, dass er angesichts der wachsenden Gewalt Angst um die Sicherheit seiner Familie und seiner selbst hat.

Gewichtige Propaganda

Propaganda spielt eine zentrale Rolle im Aufruhr im Donbass. Der Grossteil der Bevölkerung schaut russisches Fernsehen, das vom Kreml kontrolliert wird. «Das Ziel Putins ist klar: Den ukrainischen Staat zerstören und mit allen Mitteln die Kontrolle über die Gebiete mit mehrheitlich russischsprachiger Bevölkerung übernehmen», findet der Politologe Stanislaw Belkowsky.

Bis jetzt sei das Fernsehen Putins bevorzugte Waffe. Die Botschaft, die im Fernsehen in Endlosschlaufe wiederholt wird: Kiew sei von einer illegitimen Junta besetzt, die von Faschisten kontrolliert werde, welche wiederum vom Westen manipuliert seien. Putin sei der einzige Festungswall gegen Anarchie und Armut.

«Die russische Propaganda ist eine grossartige Waffe», stimmt Wadym Omeltschenko zu, der Leiter des unabhängigen Gorshenin-Instituts in Kiew, das politische und soziale Vorgänge untersucht. «Unsere ukrainischen Medien sind ganz klar nicht in der Lage, diesen Attacken etwas entgegenzusetzen.»

Groll gegen den Westen

«Ich schaue keine ukrainischen Fernsehstationen, weil sie lügen», empört sich Mascha. Die pensionierte Architektin wartet auf den Bus, der sie ins Zentrum von Donezk bringen soll. «Die Interimsregierung in Kiew hat keinerlei Legitimität», findet sie und bedauert, dass Janukowitsch im Februar abgetreten ist.

«Im ukrainischen Fernsehen sprechen sie von uns Einwohnern des Donbass wie von einer Horde Degenerierter. Die Leute im Westen, die die Macht übernommen haben, schauen auf uns herunter», regt sie sich auf. Trotzdem fühlt sie sich «zu 100 Prozent als Ukrainerin. Es kommt nicht in Frage, aus der Ukraine auszutreten! Wir gehören alle zu einem einzigen Land und müssen unsere Probleme unter uns regeln», betont Mascha.

Plötzlich schliesst sich eine andere, ärmlich gekleidete Frau der Diskussion an. «Ich will, dass Donbass Russland angehört», sagt sie. «Unsere Regierung ist unfähig und wird von Oligarchen kontrolliert. Sie haben unsere Industrie geplündert und ihr Geld im Westen deponiert. Putin hat die Industrie wieder auf Vordermann gebracht. Die westlichen Länder respektieren ihn, weil sie Angst vor ihm haben.» Die Frau verhehlt nicht, dass für sie die entscheidende Frage die Renten sind: «Sie sind in Russland vier Mal höher als in der Ukraine.»

Komplexe Situation

Die Bevölkerung des Donbass ist aufgrund verschiedener Interessen gespalten. Viele Junge befürworten die Maidan-Revolution in Kiew. So wie der 28-jährige Sergei Popow. «Ich möchte, dass sich die Ukraine in Europa integriert und endlich aufräumt mit der Herrschaft von Korruption und Bevormundung», sagt der junge Jurist und Pro-Ukraine-Aktivist, der in Donezk lebt.

Artiom Nowikow, ein Taxichauffeur in den Vierzigern, sieht die Sache anders: «Ich bin gegen die Maidan-Bewegung. Die Leute vom Maidan haben mit Gewalt eine rechtmässige Regierung gestürzt und sehen sich heute als Helden. Wenn wir uns erheben, nennt man uns Separatisten!»

Für den Politologen Alexander Kawa «weigern sich Regierung und Medien in Kiew, die Forderungen aus dem Donbass anzuhören. Sie schieben die ganze Verantwortung für die Probleme auf Moskau ab.»

In Slawiansk, einer Stadt mit 120'000 EinwohnerInnen unter der Kontrolle der pro-russischen Rebellen, funktioniert die Doppelmoral anders herum. Die Anhänger der selbst ernannten «Volksrepublik Donezk» trieben das Referendum über die Unabhängigkeit der Region voran, während ihr wahres Ziel der Anschluss an die russische Föderation ist.

Ein grosser Teil der Bevölkerung dieser wirtschaftlich gebeutelten Stadt unterstützt die Rebellion, weil sie Schutz biete gegen «die Faschisten in Kiew, die uns mit Panzern angreifen wollen», findet Tatiana, Buchhalterin im Rathaus. Die Rebellen mit ihren Kalaschnikows machen ihr keineswegs Angst, sondern sie sieht in ihnen «wahre Patrioten, endlich einmal keine Marionetten Europas». In ihren Augen ist eine Annäherung an Russland nötig, «denn unsere Fabriken hängen vollständig von den russischen Bestellungen ab. Aber ich will die Grenzen nicht ändern. Ich möchte, dass die Ukraine bleibt, wie sie ist.» Wie die meisten EinwohnerInnen von Slawiansk übersieht sie, dass der Kreml in der Ostukraine unter dem Deckmantel des «Kampfs gegen den Faschismus» das Krim-Szenario wiederholen möchte.

Von Emmanuel Grynszpan. Er ist Korrespondent von «Le Temps» in Russland.

Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» von Juni 2014.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion